Das Zimmer ist dunkel. Nur an den Seiten der Vorhänge dringt ein wenig Licht herein. Das Telefon klingelt, und Leonard Bernstein (Bradley Cooper) meldet sich mit verschlafener Stimme. Schon wenige Sekunden später ist der Mann hellwach, springt aus dem Bett, reißt die Vorhänge auf, trommelt mit beiden Händen auf dem nackten Hintern seines Geliebten, rennt die Stufen eines gewundenen Treppenhauses hinunter, stößt die Tür auf – und steht spärlich bekleidet auf der Empore eines riesigen, leeren Konzertsaales.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Nahezu nahtlos und in expressiven Schwarz-Weiß-Aufnahmen hat Bradley Cooper in seinem Film „Maestro“ diese hochdynamische Sequenz inszeniert. Sie führt nicht nur direkt vom warmen Bett ins Auditorium, sondern markiert auch den kometenhaften Aufstieg des Dirigenten und Komponisten Leonard Bernstein.

Gerade einmal 25 Jahre alt ist Bernstein, als er ohne Probe im November 1943 für den erkrankten Dirigenten der New Yorker Philharmoniker einspringt. Das Konzert in der Carnegie Hall wird zum Triumph für Bernstein. Dessen Interesse gilt ebenso der klassischen Musik wie auch dem Komponieren von Musicals à la „West Side Story“ (1957).

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Die Karriere des Genies bildet in Coopers „Maestro“ nur die Hintergrundmusik für ein atypisches Biopic, das sich auf die Liebesbeziehung zwischen Bernstein und seiner Ehefrau Felicia Montealegre konzentriert. Als der Dirigent und die Schauspielerin sich auf einer Party begegnen, ist es ein Verliebtsein auf Augenhöhe. Er hängt an ihren Lippen, wenn sie nachts ins Theater einbrechen und sie ihm eine Szene vorspielt. Sie ist fasziniert von der Energie seiner Musicals. Und hier hebt der Film gleich noch einmal ab: Die auf der Bühne herumwirbelnden Matrosen nehmen Leonard erotisch in ihre Reihen auf und drängen Felicia im Tanz immer wieder von ihrem Geliebten ab.

Loyalität ist wichtiger als Treue

Sie wisse, wer er sei, bekräftigt Felicia, als sie beschließen zu heiraten. Gemeint ist nicht nur das künstlerische Genie, dessen Liebe zur Musik übermächtig ist, sondern auch ein Mann, der seine Bisexualität nach der Hochzeit nicht aufgeben wird. „Ich will viele Dinge“, sagt Bernstein und versucht, all seine Bedürfnisse und Talente gleichzeitig auszuleben – als Dirigent, Komponist und Lehrer, liebender Vater und koksender Partyhengst. Er will heterosexuelle Normalität und schwule Leidenschaft, ist introvertierter Künstler und extrovertierter Star.

Felicia, die auch mit drei Kindern ihre Karriere als Theaterschauspielerin nie aufgegeben hat, hält lange an einem pragmatischen Beziehungskonzept fest. Gegenseitige Loyalität ist wichtiger als sexuelle Treue – bis die Erosionskräfte zu stark werden. In einer furiosen Streitszene werden die Gefühle zur kontrollierten Explosion gebracht, während die Kamera in der Totalen verharrt und am Fenster ein riesiger Snoopy-Luftballon von einem Festumzug hereinschaut.

Nach seinem Regiedebüt „A Star Is Born“ (2018) ist Bradley Cooper mit „Maestro“ ein zweiter großer Coup gelungen. Wie seine Titelfigur will auch Cooper, der hier als Regisseur, Drehbuchautor, Produzent und Hauptdarsteller verantwortlich zeichnet, viele Dinge gleichzeitig und vor allem eines nicht: einen blinden Lobgesang auf ein Genie und dessen außerordentlichen Lebensweg.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Cooper spielt und inszeniert Bernstein in all seiner komplexen Widersprüchlichkeit. Das Spektrum reicht von der ansteckenden Vitalität, dem Verschmelzen mit der Musik und einem großen Herzen für seine Mitmenschen bis hin zu künstlerischer Egozentrik und depressiven Abstürzen. Gleichzeitig gelingt es dem Regisseur, sich nicht von der Faszination fürs Genie überwältigen zu lassen.

Felicia bleibt ein gleichberechtigtes Epizentrum. Carey Mulligan ist fantastisch in der Rolle der Ehefrau, die mit emotionaler Klarheit ihr Selbstwertgefühl behauptet. „Maestro“ erzählt nicht die alte Mär vom übermächtigen Künstler und seiner wehrlosen Muse, sondern von einem Liebespaar, das durch alle Widrigkeiten hindurch um Gemeinschaft ringt.

Kino als sinnliches Medium

Dass daraus kein eheliches Trauerspiel wird, liegt an Coopers lebendigem Inszenierungsstil, der das Kino – genauso wie Bernstein seine Musik – als sinnliches Medium begreift. Je nachdem, in welchem Jahrzehnt sich die Handlung gerade befindet, verschreibt sich der Film der Schwarz-Weiß-Ästhetik und Erzähldynamik klassischer Screwball-Komödien aus den 40er-Jahren, um sich später in satten Farben, überlappenden Dialogen und einem vergrößerten Ensemble beim Naturalismus früher Robert-Altman-Filme zu bedienen.

Bei den Filmfestspielen in Venedig sorgte die Netflix-Produktion für Furore. Bei den Oscars heimste „Maestro“ sechs Nominierungen ein.

„Maestro“, Regie: Bradley Cooper, mit Bradley Cooper, Carey Mulligan, Matt Bomer, 129 Minuten, FSK 12

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Bei der Oscarverleihung 2024 ist „Maestro“ in sechs Kategorien nominiert:

  • Bester Hauptdarsteller (Bradley Cooper)
  • Beste Hauptdarstellerin (Carey Mulligan)
  • Bestes Originaldrehbuch
  • Beste Kamera
  • Bestes Make-up und beste Frisuren
  • Bester Ton

Das sind alle Oscarnominierungen 2024 in der Übersicht.

Wir haben diesen Artikel am 10. März 2024 neu veröffentlicht.



Source link www.ostsee-zeitung.de