Armut isoliert Menschen – Long Covid auch. Besuch bei Melanie Zeiske und Daniela Bock, die als erschöpfte Betroffene mit der Bürokratie kämpfen.
Ein großes Problem, das sagt Anni Conrad deutlich, sei das Misstrauen. „Nicht nur bei Long Covid“, erklärt sie. Wenn Kranke in Deutschland Unterstützung von der Gesellschaft beantragten, stehe bei manchen Menschen und Ärzt:innen offenbar schnell ein Verdacht im Raum: Die wollen sich vor der Arbeit drücken und Leistungen erschleichen. Vorurteile, die besonders bei Krankheiten kursieren, die man im ersten Moment nicht sieht.
Laut Anni Conrad berichten in einer Online-Selbsthilfegruppe für Long Covid mit 11.200 Mitgliedern immer wieder Betroffene davon. Sie selbst ist eine der Administrator:innen und engagiert sich bei der Betroffenen-Initiative „Long Covid Deutschland“. Conrad ist selbst daran erkrankt.
Während in der breiten Gesellschaft die Pandemie kaum noch Thema ist, bestimmt Covid-19 für Hunderttausende Menschen in Deutschland weiterhin den Alltag. Bei ihnen entwickelten sich durch die Infektion verschiedene Symptome, die blieben. Als Post-Covid-Syndrom definiert die Weltgesundheitsorganisation Beschwerden, die nach der akuten Corona-Erkrankung auftreten und länger als drei Monate andauern.
Umgangssprachlich hat sich der Begriff Long Covid durchgesetzt. Vergleichbare Symptome gibt es auch bei anderen Virus-Erkrankungen, mit denen Betroffene im Sozialsystem vor ähnlichen Problemen stehen. Aber durch Covid-19 kamen viele Kranke in kurzer Zeit hinzu.
Bei einem Treffen von Vertreter:innen aus Wissenschaft, Medizin und Versorgung zu Long Covid jetzt am Dienstag sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), es sei von rund einer halben Million Betroffener auszugehen. Dabei betonte er, die Versorgung werde besser und die Forschung nehme Fahrt auf. Aber genaue statistische Daten fehlen noch. Klar ist nur: Viele Betroffene brauchen finanzielle Unterstützung. Und wer schon vor der Infektion wenig Geld hatte, den trifft es besonders hart.
Weil Armut stigmabehaftet ist, und Long Covid viele nicht mehr ernst nehmen, hört man zu wenig davon
In der Selbsthilfegruppe, erzählt Anni Conrad, tauschten sich die Mitglieder auch über „das reine wirtschaftliche Überleben bei lang dauernder Erkrankung“ aus. Teilweise würden über Monate benötigte Leistungen nicht bewilligt. Es geht um Krankengeld und Erwerbsminderungsrente, um Schwerbehinderung, Berufsgenossenschaften oder Begutachtungspraktiken. Ein Teil der Betroffenen kämpft offensichtlich „massiv mit finanziellen Engpässen und extremen Existenzängsten“. Es sind Alleinerziehende, Selbstständige und Geringverdiener.
Aber warum hört man öffentlich wenig von ihnen? Ein Grund könnte sein, dass Armut weiterhin stigmabehaftet ist. Genauso wie Long Covid weiterhin von vielen nicht ernst genommen wird. Betroffene antworteten der taz, dass sie nicht mit Namen oder Foto in der Zeitung erscheinen wollten. Zudem hätten sie wenig Zeit und Energie.
Laut Statistischem Bundesamt waren 2023 mehr als 17 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Studien zeigen zudem: Das Risiko, schwer zu erkranken, ist bei Armutsbetroffenen höher. Darauf wies beim Kongress Armut und Gesundheit im März auch Bundesgesundheitsminister Lauterbach hin. Als Schirmherr des Kongresses zog er in der Eröffnungsrede die direkte Verbindung von Armut zu Long Covid.
Weltweit, so Lauterbach, habe die Pandemie überproportional Ärmere getroffen, „und das ist auch jetzt weiter der Fall“, obwohl die akute Pandemie vorbei sei. „Wir wissen, dass mit der Veränderung des Klimas die Wahrscheinlichkeit von Pandemien zunehmen wird.“ Aber sind Sozial- und Gesundheitssysteme auch nur ansatzweise darauf vorbereitet?
Zumindest was Armut und Long Covid angehe, sei sich die Bundesregierung „dieser Problematik bewusst“, versichert ihr Patientenbeauftragter Stefan Schwartze (SPD). Es gehe voran, aber er sehe weiter Handlungsbedarf. Dabei könne „unsere Gesellschaft insgesamt mehr Solidarität und Empathie zeigen“. Long Covid habe erhebliche soziale und ökonomische Auswirkungen, für die Gesellschaft und für Einzelne.
Das weiß Long-Covid-Patientin Melanie Zeiske aus erster Hand. Ende 2020 erkrankte sie an Covid-19, die meisten Symptome hat sie bis heute. Unter anderem sind ihre kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt. Eigentlich braucht sie seit Monaten ein Programm, um diese am Computer zu trainieren. Ihre Ergotherapeutin hat ihr das empfohlen. Aber es kostet 50 Euro, die liegen bei Melanie Zeiske nicht einfach rum. „Das Programm ist super, aber das kann ich nicht essen“, erklärt sie.
Mit ihrer zehnjährigen Tochter steht sie im hessischen Ort Oberbrechen vor einem kleinen Laden: der Blumeninsel. Dort hat die Alleinerziehende bis vor etwa drei Jahren gearbeitet, dann wurde ihr gekündigt. Zeiske, dunkle Haare, schmale Brille, zuckt mit den Schultern. „Ich verstehe das schon. Was sollte die Besitzerin anderes machen?“
Sträuße binden oder über Stunden hinterm Tresen stehen und mit Kund:innen sprechen – das ging für die Floristin Zeiske nicht mehr. Sie kann sich unter anderem nur schwer konzentrieren. Wenn sie sich anstrengt, dann braucht sie Pause und wirklich Ruhe. Das ist bis heute so. Geregelter Arbeitsalltag? Keine Chance. Aktuell leben sie und ihre Tochter von Sozialleistungen. Sparen ging vorher nicht. In der Blumeninsel arbeitete sie Teilzeit.
Eigentlich will Melanie Zeiske an diesem Tag ihre frühere Chefin im Laden besuchen. Trotz Kündigung, das Verhältnis sei gut. Doch die ist nicht da. Darum steigen Mutter und Tochter wieder ins Auto und fahren zwei Orte weiter nach Villmar, wo sie in einem kleinen Haus an einer Straßenecke mit zwei Katzen leben.
„Ich vermisse das Singen im Chor. Aber mir wird sogar das Zuhören zu viel“
Villmar liegt nicht weit von Limburg, inmitten der grünen Hügel des Lahntals. Der Fluss zieht sich am Ort entlang, direkt am Wasser steht die König-Konrad-Halle, in der Zeiske früher mit dem Chor Proben und Auftritte hatte. Auf der Rückfahrt von der Blumeninsel hält sie kurz an. „Ich vermisse das gemeinsame Singen. Aber mir wird sogar das Zuhören zu viel“, seufzt sie und fährt wieder an. Armut isoliert Menschen – Long Covid auch.
Aber mit dem Thema möchten sich offenbar viele nicht mehr beschäftigen. Der Medienjournalist René Martens, der auch für die taz schreibt, kritisierte im März beim Onlinemagazin Übermedien, dass Journalist:innen in Deutschland insgesamt zu wenig über Corona berichteten. Liegt es an der „Pandemiemüdigkeit“? Oder daran, dass die Krankheit so schwer zu fassen ist? Nicht nur weil es so viele Symptome gibt. Allein die statistische Lage bei Long Covid ist weiterhin sehr überschaubar.
Nicht mal Akiko Iwasaki, die Professorin für Immunbiologie an der Yale University sowie Präsidentin der American Association of Immunologists ist und zu Long Covid forscht, kann genau sagen, wie hoch das Risiko genau ist, daran zu erkranken. 2021 entwickelten etwa 10 Prozent aller Corona-Infizierten Long Covid, 2023 schätzungsweise nur noch etwa halb so viele, erklärte sie dem Spiegel im März.
Was Iwasaki hingegen genau sagen kann: „Ich habe immer noch Angst vor Sars-CoV-2.“ Nicht vor der akuten Infektion, aber Angst „vor den möglichen Folgen.“ Long Covid könne Leben zerstören.
So sagt das auch Melanie Zeiske. Mittlerweile sitzt sie an ihrem Esstisch und berichtet von ihrer Krankheitsgeschichte. Hin und wieder rauscht ein Lkw am Haus vorbei, trotz geschlossenem Fenster gut hörbar. An die Wände hat Zeiske viele Fotos gehängt, die meisten zeigen ihre Tochter. „Am meisten stört mich, dass wir nichts unternehmen können“, sagt Zeiske. Das scheitere an Geld und Energie.
„Ich bin aus der zweiten Welle“, sagt sie salopp: Im Dezember 2020 erkrankte sie. Damals setzten direkt Schüttelfrost, Schwindel und Konzentrationsprobleme ein – der sogenannte Brain Fog, Nebel im Gehirn. „Das ist ja nie weggegangen.“
Kurz vor Nikolaus 2020 waren Schnelltests nicht verbreitet und die Impfungen noch nicht raus. Darum wollte Zeiske eine Diagnose vom Arzt. Der sagte allerdings, zu wenig Symptome für eine Corona-Infektion. Zeiske konnte noch schmecken, hatte kein hohes Fieber. Also: Kein PCR-Test. Wenn sie darauf bestanden hätte, wären 120 Euro fällig gewesen. „Die hatte ich als alleinerziehende Mutter natürlich nicht“, sagt sie und holt tief Luft. Sie hat keinen Nachweis, dass sie damals an Covid-19 erkrankt war. „Hätte ich gewusst, was das nach sich zieht, ich hätte das Geld erbettelt.“
Nach zweiwöchiger Isolation versuchte Zeiske wieder zu arbeiten. Doch es ging nicht, weil ihr Husten so stark war, dass er ihr den Atem nahm. Vor Weihnachten isolierte sie sich noch einmal, und versucht Mitte Januar erneut zu arbeiten. „Das ging dann erst mal so weiter. Zwei Wochen arbeiten, zwei Wochen krank. Die Ärzte meinten damals: Kein Testergebnis, kein Corona.“
Schließlich geht es nicht mehr. Zeiske verliert im September 2021 ihren Job, weil sie so oft fehlt. Aber ausruhen kann sie sich trotzdem nicht. Statt mit Blumen beschäftigt sie sich mit Papieren. Sie bekommt zwar noch Krankengeld, aber weil das nicht reicht, bemüht sie sich um Kindergeld, Kinderzuschlag, Unterhaltsvorschuss und Wohngeld. „Die ganzen Anträge und verschiedenen Stellen, das ist ja schon für Gesunde anstrengend. Aber mit dem bisschen Konzentration, das ich noch hatte, habe ich ewig gebraucht.“
Zudem beantragte Zeiske noch eine Erwerbsminderungsrente. „Aber das wurde abgelehnt, weil ich laut Gutachten gar nicht so krank bin.“ Eine Erfahrung, die Zeiske öfter macht. Weil sie für die Anträge beweisen muss, wie krank sie ist, fährt sie von Fachärzt:in zu Fachärzt:in. Doch viele stehen bei Long Covid auch vor einem Rätsel. Manche zweifeln an ihrer Krankheit. Irgendwann zweifelt auch Zeiske.
Aber das ändere nichts: Drei Stunden Arbeit am Tag oder mehr, das schaffe sie nicht. Vor allem nicht, wenn sie gesund werden wolle. „Mir gefällt das am allerwenigsten. Wenn ich könnte, ich würde wieder zurück in die Blumeninsel“, sagt Zeiske. Sie legt bezüglich ihrer Erwerbsminderungsrente Widerspruch gegen die Ablehnung ein. „Aber das kann jetzt Jahre dauern. Wie viel ich am Ende bekomme, weiß ich gar nicht.“
Nach 78 Wochen lief bei Melanie Zeiske das Krankengeld aus, und sie bekam Arbeitslosengeld 1. Doch zu dem Zeitpunkt war das so gering, dass ihr gesetzlicher Anspruch auf einen Kinderzuschlag entfiel. Um den zu bekommen, sucht sie sich doch einen kleinen Job: In der Woche putzt sie für insgesamt anderthalb Stunden beim örtlichen Lahn-Marmor-Museum.
Das hat zwei Stockwerke, einen Aufzug und die Vorsitzende des Vereins, der das Museum betreibt, hat Verständnis für Zeiskes Krankheit. Ihr Putzjob sichert den Kinderzuschlag. Doch was sie in den anderthalb Stunden verdient, ist zu viel für die Wohngeldstelle, die ihr daraufhin das Geld kürzt. „Da musste ich dann wieder was zurückzahlen.“
Nicht alle Anträge, die Melanie Zeiske stellt, zielen auf Sozialleistungen. Sie suchte nach Therapien für Long Covid, sie war in Reha oder beantragte einen Rollator. An manchen Tagen fällt ihr das Laufen schwerer als an anderen. „Meine Nachbarin sagt zwar, mit dem Rollator könne ich doch nicht rumlaufen, aber inzwischen ist mir das egal.“ Wenn sie merke, dass ihr Kraft fehle, sei sie froh über die Gehhilfe. Ihr Modell sei aber nicht praktisch. Der Rollator passt nicht ins Auto und ist schwer. Ein leichterer hätte sie 100 Euro Zuzahlung gekostet. „Aber wo soll ich das denn wieder herbekommen?“
Wenn die Gesundheitspolitikerin Kathrin Vogler von der Linken von solchen Fällen hört, ärgert sie sich. Die Krankenkassen sparten an kleinen Beträgen, „weil die Bundesregierung sie in einen ökonomischen Wettstreit schickt“. Wenn die Kasse wenige Leistungen bewilligt, kann sie niedrige Beitragssätze anbieten. Zumindest in der Theorie.
Praktisch kämen dann allerdings die Kosten für Kontrollen hinzu. Würde die Kasse jetzt arme Menschen stärker unterstützen, könne sie sich später Versorgungskosten sparen. „Deren Kinder haben dann auch höhere Chancen, selbst gut zu verdienen“, argumentiert Vogler.
Bisher übernimmt die Krankenkasse bei Long Covid nicht viel. „In Bezug auf die Behandlung sind bisher keine gesicherten und spezifischen therapeutischen Interventionen bekannt“, teilt der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen mit. Die Behandlung orientiert sich deshalb an den einzelnen Symptomen, die sich teilweise lindern lassen. Dabei können auch Medikamente helfen, die eigentlich für andere Krankheiten zugelassen sind.
Ordnen Ärzt:innen diese für Betroffene von Long Covid an, als sogenannter „Off-Label-Use“, müssen die dafür privat aufkommen. Allerdings arbeitet derzeit eine Gruppe Expert:innen für die Bundesregierung an einer Liste von solchen Medikamenten. Diese sollen Krankenkassen am Ende bei gesichert an Long Covid Erkrankten übernehmen. Doch noch ist die Liste nicht fertig.
Viele Betroffene berichten in Selbsthilfegruppen und auf anderen Plattformen von privaten Therapieversuchen: Nahrungsergänzungsmittel, Kältekammer oder die sogenannte Blutwäsche, Apherese. Auch die müssen sie selbst zahlen. Das kann zehntausende von Euros kosten. Nichts für Melanie Zeiske. Aber eine Bekannte habe quasi das Geld für einen Kleinwagen ausgegeben. „Ihr hat es aber nichts gebracht. Sie ist immer noch krank. Da war ich froh, dass ich nichts gespart hatte.“
Therapieversuche sind zu teuer
Etwa 370 Kilometer südwestlich geht es Daniela Bock ganz ähnlich wie Melanie Zeiske. Auch sie hat mit Therapieversuchen wenig Erfahrung. „Das kann ich mir schlicht nicht leisten“, sagt sie in ihrer 30-Quadratmeter-Wohnung in München. Bock sitzt auf einer roten Couch, um sie herum bunte Kissen, Decken und Lammfelle. Sie hat ihre Hausschlappen ausgezogen, die Beine angewinkelt und beide Füße auf dem Polster. Dass sie nicht aufgeräumt habe, tue ihr leid. „Aber dazu fehlt die Energie.“
Auf einem kleinen Holztisch stehen mehrere braune Apothekerfläschchen: Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel. Insgesamt lebt Daniela Bock derzeit von 650 Euro Erwerbsminderungsrente. „Das ist meine volle Erwerbsminderungsrente, die ich mir mit 51 Jahren erarbeitet habe. Immer in Vollzeit oder in zwei Jobs. Aber das deckt nicht mal meine Miete. Das ist der Preis, wenn man im sozialen Bereich arbeitet.“
Bis Oktober 2020 betreute sie als Sozialpädagogin Grundschulkinder, wenn deren Unterricht zu Ende war oder sie Ferien hatten. Das hat sie als Selbstständige „im kleinen Stil“ gemacht, wie sie sagt. Nicht viel, aber genügend Geld. „Dann habe ich mich bei der Arbeit mit den Kindern angesteckt.“
Wie Melanie Zeiske entwickelte Daniela Bock direkt starke Symptome, die blieben. Auch sie hat kaum Energie, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme. Zudem steigt ihr Puls stark, wenn sie steht, während der Blutdruck bleibt. „Pots“ heißt das, sie leidet deshalb unter Schwindel und Benommenheit. Arbeiten kann sie nicht, beschäftigt ist sie trotzdem.
„Long Covid ist ein Fulltimejob“, scherzt Bock. Auch bei ihr nimmt die Auseinandersetzung mit den Anträgen viel Zeit ein. „Inzwischen kann ich darüber schmunzeln. Aber bis ich mich eingearbeitet hatte: was kann ich beantragen, von wem und wie viel? Wann muss ich das neu beantragen? Und das alles als kranker Mensch.“ Aber lässt sich da etwas ändern?
Für Long-Covid-Patient:innen sei es besonders schwer, sich in den Gesundheits- und Sozialsystemen zurechtzufinden, weil diese Menschen dauerhaft unter Erschöpfung leiden, bestätigt der CDU-Gesundheitspolitiker Tino Sorge. „Dieses Bewusstsein hat sich in den vergangenen Jahren in vielen medizinischen und behördlichen Bereichen etabliert. Vielerorts braucht es aber noch mehr Aufklärung“, fordert er.
Das klingt bei der linken Bundestagsabgeordneten Kathrin Vogler recht ähnlich. Sie schlägt vor, es brauche unabhängige „Soziallotsen“, die den Betroffenen helfen, sich im Sozialsystem zurechtzufinden. So einen hatte Daniela Bock nicht. Sie berichtet von vielen Anrufen, Warteschleifen und Anträgen, aber auch von ihrer engagierten Reha-Managerin und ahnungslosen Mediziner:innen.
Immer mal wieder sagt sie entschuldigend: „Das ist jetzt ein bisschen kompliziert.“ Oder sie unterbricht sich selbst: „Moment, mein Hirn setzt aus, wie war das nochmal?“ Dann greift sie nach einem Zettel, auf dem sie sich Notizen zu ihrer Erkrankung gemacht hat. In dreieinhalb Jahren ist viel passiert.
Nachdem Daniela Bock ihren 60 Seiten langen Antrag eingereicht hatte, bewilligt ihr die Rentenversicherung innerhalb von vier Monaten die Erwerbsminderungsrente von 650 Euro. Vergleichsweise schnell. Doch andere Sozialleistungen, zum Beispiel Grundsicherung, bekommt sie derzeit nicht. Sie hat als Selbständige mehr als 10.000 Euro zurückgelegt. Wer das hat, kriegt keine Grundsicherung. „Beim Bürgergeld sind im ersten Jahr 40.000 Euro okay. Warum ist das bei chronisch Kranken weniger?“, fragt Bock und zeigt auf die Medikamente vor sich: „Kranke haben doch einen wesentlich höheren Mehrbedarf.“
Bock ist sicher, dass ihr eine Verletztenrente zusteht, weil sie sich während der Arbeit bei den Kindern angesteckt hatte. Ihr Fall wäre demnach eine Berufskrankheit und die Berufsgenossenschaft in der Pflicht. Doch nach mehr als dreieinhalb Jahren, unzähligen Telefonaten und mehreren Widersprüchen habe sie von der bisher nur einen Vorschuss bekommen. Aber damit fühle sie sich nicht sicher. Was, wenn sie den wieder zurückzahlen muss? „Ich weiß ja nicht mal, wo die Miete fürs nächste Jahr herkommen soll.“
Auch Lebensmittel sind für sie ein Thema. Ende 2022 bewarb sich Daniela Bock auf eine Berechtigungskarte für die Tafel, die gemeinnützige Organisation, die Lebensmittel, die nicht mehr verkauft würden, an Bedürftige verteilt. Die Berechtigung bekam sie. Aber die Lebensmittel abholen? Da erschwerte ihr Long Covid wieder das Leben. Beim ersten Mal musste sie persönlich hin, obwohl sie kaum das Haus verlassen konnte.
Mehrfach fragte sie bei der Tafel, ob es nicht anders ginge, so erzählt es Bock heute. Aber nein, die einzige andere Möglichkeit wäre der Pflegedienst gewesen – und der hätte sie Geld gekostet, das sie nicht hatte. Verständnis habe sie schon, die Tafel wolle Missbrauch verhindern. „Aber es fühlt sich krass an, was einem da wieder unterstellt wird.“
Am Ende ging Daniela Bock selbst hin. Die Ausgabe ist donnerstags zwischen 14 und 16 Uhr. Schon am Mittwoch war Bock aufgeregt. „Da rede ich mir immer selbst gut zu: ‚Du musst das irgendwie schaffen‘“. Also los: Die Treppe runter, ein kurzer Weg zur U-Bahn, eine Station fahren, nochmal laufen, dann etwa eine halbe Stunde anstehen und mit den Lebensmitteln wieder zurück. Geschafft. „Danach hatte ich seit langem mal wieder einen größeren Crash“ – sie musste sich tagelang auf der Couch ausruhen. Aber sie hatte Lebensmittel.
Entspannung nicht in Sicht
Mittlerweile können andere Menschen mit einer Vollmacht für sie Lebensmittel bei der Tafel holen. Über die Nachbarschaftshilfe bekomme sie ehrenamtlich Unterstützung. Entspannt ist es trotzdem nicht. Selbst wenn andere für sie gehen, ist Daniela Bock nervös. „Und wenn ich mich dann bücke und Sachen verstaue, verschlimmert das auch die Symptome.“
Doch zumindest könne sie nach dreieinhalb Jahren besser abschätzen, wo ihre Belastungsgrenze liege. Woran sie sich hingegen nicht gewöhnen könne, sei das fehlende Verständnis. „Ständig werde ich von diversen Seiten blöd angeschaut, warum ich mich so anstelle, wo ich doch eigentlich nichts habe.“ Von Bekannten käme das und selbst von Ärzt:innen.
In Deutschland sollen zukünftig Hausärzt:innen bei Long Covid die Koordinierung übernehmen. Das hat der Gemeinsame Bundesausschuss, das höchste Gremium des Gesundheitswesens, in einer neuen Richtlinie festgehalten. Noch ist sie nicht in Kraft, am 11. April hat das Bundesgesundheitsministerium sie aber formal genehmigt.
Laut der Bundesvorsitzenden des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth, nehme die „Hausärzteschaft“ Betroffene sehr wohl ernst. „Die Diagnostik von Long Covid ist komplex, insbesondere weil die Symptomatik häufig diffus ist“, erklärt sie der taz. „Um eine gute Versorgung von Long-Covid-Patienten sicherzustellen, ist Zeit ein ganz zentrales Element. Das ist bekanntlich im gesamten Gesundheitswesen Mangelware.“
In Hessen berichtet Melanie Zeiske, dass sich beim Verständnis von Ärzt:innen tatsächlich etwas getan habe. Allerdings erlebe sie immer noch, dass ihre Symptome auf einen psychischen Ursprung zurückgeführt werden und ihr die Behandlung einer Depression empfohlen wird. Zeiske hatte vor mehr als zehn Jahren tatsächlich eine Depression. „Ich kenne den Unterschied. Als ich depressiv war, hatte ich keinen Antrieb. Ich hatte keine Lust aufzustehen oder irgendwas zu machen. Jetzt ist er da. Innerlich könnte ich Bäume ausreißen! Aber mir fehlt einfach die Kraft.“
Für Zeiske sei es dann sehr hilfreich, sich in der Selbsthilfegruppe mit anderen Betroffenen auszutauschen. Doch nicht bei allen Hürden könne die Selbsthilfegruppe unterstützen, sagt Anni Conrad, die Administratorin. „Wir können die Leute nicht an die Hand nehmen und ihnen beim Ausfüllen der Anträge helfen.“ Ebenso wenig könne die Betroffeneninitiative Long Covid Deutschland das Sozialsystem ändern – auch wenn man sehe, dass Menschen teils über Monate auf benötigte Leistungen warten.
„Wir konzentrieren uns darauf, die Forschung an Diagnose- und Therapiemöglichkeiten anzuschieben.“ Dabei seien die Kapazitäten begrenzt. „Wir haben alle Long Covid und müssen unsere Energie einteilen.“ Im Moment, so Conrad, bedeute das: Ein Problem nach dem anderen.