Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm wurde zu Beginn der diesjährigen Leipziger Buchmesse für sein Buch “Radikaler Universalismus” mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Dies ist die deutsche Übersetzung seiner auf Englisch gehaltenen Dankesrede. Lesen Sie hier die Laudatio, die die israelische Soziologin Eva Illouz bei dieser Gelegenheit auf Boehm gehalten hat, in deutscher Übersetzung.

In der Nacht des 31. Dezember 1785 verließ ein
alter jüdischer Mann eilig sein Haus in Berlin, um ein Buchmanuskript zur Veröffentlichung
zu bringen. Es war schon am Vorabend fertig, aber es war Freitag, und er musste
das Ende des Schabbats abwarten. Seine Frau warnte ihn. Es war zu kalt. Er war
zu gebrechlich, um das Haus zu verlassen. Vier Tage später starb er an den Folgen
einer Erkältung, die er sich in dieser Nacht zugezogen hatte. Der alte Mann war
Moses Mendelssohn, die herausragende Gestalt der deutschen und jüdischen Aufklärung.
Das für ihn so dringliche Buch trug den Titel: An die Freunde Lessings

Die Freundschaft zwischen Mendelssohn und
Lessing ist nicht nur der Ursprung der tragischen “jüdisch-deutschen Symbiose” – Lessing hat Nathan den Weisen bekanntlich dem Charakter seines jüdischen
Freundes nachempfunden –, sondern, nicht minder bedeutsam, der christlich-jüdisch-muslimischen
Verständigung: Nathans Ringparabel hat drei Ringe, nicht zwei. Dieses Verständigungsideal
ist ein stolzes europäisches, doch Lessing hatte gute Gründe, seinen Ursprung
außerhalb des Kontinents zu verorten – Nathan der Weise spielt in Jerusalem. Neben Kants
bekanntem Essay ist Lessings Nathan wohl die kühnste Antwort, die wir auf
die Frage kennen: Was ist Aufklärung?

Für Kant ist Aufklärung Menschlichkeit, die
sich in der Freiheit, selbst zu denken, ausgedrückt. Für Lessing ist sie
Menschlichkeit, die sich in der Freiheit zur Freundschaft ausgedrückt. An einigen
entscheidenden Stellen des Stücks verkündet Nathan: “Kein Mensch muss müssen.” Erst
im Lichte dieser Behauptung der Freiheit kommt das bekannte Motto des Stücks
zum Leuchten, als Nathan in alle Richtungen ausruft: “Wir müssen, müssen Freunde
sein!” Doch in welchem Verhältnis steht die Aufklärung Kants zu der Lessings,
das Ideal des Selbstdenkens zu dem der Freundschaft?

Im Jahr 1959 erhielt Hannah Arendt den
Lessing-Preis der Stadt Hamburg. Ihre Dankesrede “Von der Menschlichkeit in
finsteren Zeiten” könnte auch den Titel An die Freunde Lessings tragen. Wenn
es normalerweise das Denken erhellt, die Dinge ins Licht des öffentlichen
Diskurses zu bringen, so ist eine finstere Zeit für Arendt eine, in der das
Licht der Öffentlichkeit das Denken verdunkelt. Das öffentliche Gespräch, die
tragende Säule der Aufklärung, begeht Verrat; das Vertrauen in ein gemeinsames
menschliches Leben ist zerstört. Aber: “Noch in den finstersten
Zeiten”, so argumentiert Arendt, “haben wir das Recht, eine gewisse Erleuchtung
zu erwarten”, die von dem “flackernden (…) Licht [kommt], das einige (einzigartige)
Männer und Frauen (…) unter fast allen Umständen (…)  auf die Zeitspanne werfen, die ihnen auf Erden
gegeben ist”. 

In solch dunklen Momenten suchen wir nach
alternativen Säulen. Eine Alternative ist die Brüderlichkeit, la fraternité – die bedingungslose Solidarität, die sich unter verfolgten Gruppen
durch die Verbundenheit mit der eigenen Identität herausbildet. Arendt zweifelt
nicht daran, dass eine solche Bindung oft notwendig ist und Größe hervorbringt;
sie betont jedoch, dass sie durch die Reduzierung der Menschheit auf die
Identität der “Verfolgten und Versklavten” einen Rückzug ins Private darstellt.
Die Solidarität der Brüderlichkeit erstreckt sich nicht darüber hinaus auch auf
diejenigen, die in der Lage sind, universell Verantwortung für die Welt zu
übernehmen. Außerdem hängt die Logik von Brüderlichkeit und Identität davon ab,
was man mit anderen gemeinsam hat und nicht vom Unterschied zu ihnen. Das ist
der Ursprung von Arendts Kritik an der Identitätspolitik im Allgemeinen und an
der Politik ihrer eigenen jüdischen Identität, dem Zionismus.

Eine zweite Alternative in dunklen Zeiten ist
die Wahrheit. Genauer gesagt, die “selbstevidenten” Wahrheiten, die unabhängig
von Zugehörigkeit von allen geteilt werden können und somit als Säule der
gemeinsamen Existenz dienen. Doch Arendt weiß sehr wohl, dass der Rückgriff auf
die Wahrheit in dunklen Zeiten fragwürdig geworden ist, da selbstevidente Wahrheiten
in modernen Gesellschaften zur Seite geschoben wurden. “Wir dürfen unsere Augen
nur nicht schließen”, schreibt sie, “um zu erkennen, dass wir uns in einem
wahren Trümmerfeld (…) befinden (…) (das) schließlich die Öffentlichkeit gerade
diejenigen ‘bekanntesten Wahrheiten’ als allen ohne Weiteres einleuchtend
voraussetzt, an die doch insgeheim kaum noch einer glaubt.”

Die Flut des dunklen Posthumanismus

Ich denke, Arendt hat recht. Dass kaum jemand die
Aussage “Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: Dass alle
Menschen gleich geschaffen sind” heutzutage akzeptiert, ist nahezu
offensichtlich; über die Wahrheit von “Die Würde des Menschen ist
unantastbar” sind die meisten noch bereit, den Anschein zu wahren. Der Kerngedanke
von Radikaler Universalismuswar es, davor zu warnen, dass ein solcher
Posthumanismus nicht nur eine akademische Nuance oder politische Anekdote ist,
und unter Berufung auf Kant zu zeigen, dass wir – in der Theorie und in der Praxis – unsere Beziehung zu solchen Wahrheiten wieder aufbauen können. Ziel des
Buches war es, Kants Begriff der Menschheit als moralische und nicht als
biologische Kategorie zu bewahren und damit die Flut des dunklen Posthumanismus
einzudämmen, der die identitäre Linke, die identitäre Rechte und – nicht
weniger wichtig – die identitäre Mitte infiziert hat, deren vermeintlicher Gegensatz
zur Identität allzu oft auf die Brüderlichkeit der Privilegierten hinausläuft. 

Doch Arendt geht in dunklen Zeiten in eine
andere Richtung. Sie hält sich nicht an Kant, sondern an Lessing, nämlich an Freundschaft
als Alternative zur Wahrheit oder Identität – genauer gesagt, an das Ideal der
Freundschaft, das Lessing von Aristoteles übernahm – als öffentliche
Angelegenheit zwischen Bürgern und nicht als private, persönliche Sache. Das
Hauptmerkmal einer solchen Freundschaft ist (angeblich) ihr Gegensatz zur
Wahrheit. Im Namen der Freundschaft und der Menschlichkeit müsse die Wahrheit
beiseitegeschoben werden. “Die dramatische Spannung (von
Nathan der Weise)”, so schreibt Arendt, “(liegt) einzig in dem Konflikt (…), in
den Freundschaft und Menschlichkeit mit der Wahrheit geraten können. Schließlich
und endlich besteht ja die Weisheit des Nathans nur darin, dass er bereit ist,
die Wahrheit der Freundschaft zu opfern.” In
diesem Opfer liegt nicht nur Nathans Weisheit, sondern auch sein
Aufklärungsideal. Dieses vermeintliche Spannungsverhältnis zwischen kalter
Wahrheit und warmer, toleranter Menschlichkeit ist fast zu einem Axiom geworden.
Ich behaupte hier, dass dieses Axiom falsch ist.



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