Berlin. Herr Klingbeil, die SPD und ihr Kanzler formulieren es so: Wladimir Putin darf seinen Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen. Sie sagen nicht: Die Ukraine muss gewinnen. Ist der feine Unterschied, dass Russland nicht die ganze Ukraine schlucken darf, aber in den besetzten Gebieten bleiben könnte?

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Die SPD als Partei, die Bundestagsfraktion und der Kanzler setzen sich seit Tag eins dieses Krieges dafür ein, dass Russland aus den besetzten Gebieten in der Ukraine verschwindet. Russland hat ukrainisches Territorium völkerrechtswidrig besetzt. Wir tun alles, damit die Ukraine sich verteidigen kann und ihre Gebiete zurückbekommt.

Nicht alles: Taurus-Marschflugkörper wollen Sie nicht liefern. Warum sagen Sie nicht, dass die Ukraine gewinnen soll?

Ich wundere mich immer über diese semantischen Haarspaltereien. Wir sind total klar: Es geht darum, dass Russland die besetzten Gebiete räumt und die Ukraine stark gemacht wird, um sich zu verteidigen.

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Das ist keine Semantik. Wenn die Ukraine den Donbass und die Krim zurückerobern können soll, müsste man ihr wohl mit Taurus-Raketen helfen.

Wir liefern der Ukraine das, was sie gerade am notwendigsten braucht: Munition und Flugabwehr. Putin hat einen langen Atem, deshalb richten wir alles darauf aus, dass wir die Ukraine langfristig unterstützen können.

Hat Fraktionschef Rolf Mützenich deshalb eine Debatte über ein „Einfrieren des Krieges“ angestoßen?

Eine wichtige Unterscheidung: Er hat nicht gefordert, dass der Krieg eingefroren wird, sondern dass es auch möglich sein muss, eine Debatte darüber zu führen, wie man zu Frieden kommt. Das finde ich richtig. Im Übrigen verstehe ich nicht, wie aktuell versucht wird, den Wunsch nach Frieden als etwas Anrüchiges darzustellen. Es ist doch wohl hoffentlich politischer Konsens, dass die Sicherung des Friedens Kern all unseres Handelns ist. Niemand wünscht sich Frieden mehr als die Ukrainerinnen und Ukrainer. Und deshalb ist es absurd, Rolf Mützenich fehlende Ukraine-Unterstützung zu unterstellen. Er hat maßgeblich für die große deutsche Militärhilfe für die Ukraine gesorgt.

Wie definieren Sie „Einfrieren des Krieges“? Was bedeutet das etwa geografisch?

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Wir definieren das überhaupt nicht. Weder im Bundestag noch im Bundeskanzleramt noch in Paris oder Washington beugen wir uns über Landkarten. Einzig und allein die Ukraine definiert, wann es zu Verhandlungen kommt und wie ein Verhandlungsergebnis sein könnte.

Pistorius: SPD ist keine Partei der Putin-Versteher

Der Verteidigungsminister warnt, dass der Streit um den Taurus von den wichtigsten Problemen der Ukraine im Verteidigungskrieg ablenke.

Aber warum sprechen Sie von „Einfrieren“, wenn Sie keine nähere Vorstellung davon haben?

Rolf Mützenich hat aufgezeigt, dass die deutsche Debatte stark verengt ist, wir uns zwar die ganze Zeit um Taurus drehen, aber nicht auch über Wege zu einem Frieden diskutieren, obwohl das anderswo selbstverständlich getan wird. Der ukrainische Präsident selbst tut das, es gibt sie doch schon längst, die internationalen Friedenskonferenzen. Trotzdem müssen wir festhalten: Putin hat gerade kein Interesse an Verhandlungen, weil er vermutlich die US-Präsidentschaftswahl am 5. November abwartet und auf einen Sieg von Donald Trump hofft.

Was ist, wenn Trump gewinnt?

Dann wird die Welt noch komplizierter.

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Teilen Trump und Putin Europa dann unter sich auf?

Ich werde die Zuversicht nicht aufgeben, dass Joe Biden diese Wahl gewinnt. Wenn es am Ende Trump wird, dann hoffe ich, dass es noch Republikaner gibt, die wissen, dass die USA und Europa sehr eng an der Seite der Ukraine stehen müssen. Aber natürlich ist Trump eine Blackbox und kann zum Sicherheitsrisiko für Europa werden.

old dramatic cracked flag texture

„Wir haben einen Zweikampf zwischen zwei Europas“

Ernst, aber nicht hoffnungslos sei die Lage Europas vor dem Wahljahr 2024, sagt der britische Historiker Timothy Garton Ash im RND-Interview. Ob langfristig das liberale oder das illiberale Europa gewinnt, hänge jetzt von jedem Einzelnen ab. Zwei Dinge aber seien besonders wichtig.

Sollte man lieber einen schnellen Waffenstillstand anstreben, weil man davon ausgehen muss, dass die Ukraine die Russen nicht zurückdrängen kann?

Putin strebt nach einem großrussischen Reich. Menschen in Polen oder im Baltikum sagen, wenn er jetzt nicht in seine Schranken gewiesen wird, sind wir die Nächsten. Es liegt in unserem eigenen Interesse, dass er gestoppt wird. Deswegen ist es so wichtig, dass wir vorankommen mit der Stabilisierung und Stärkung der Nato und massiv die deutsche und die europäische Verteidigungsfähigkeit ausbauen.

Gerade aus Polen gab es entsetzte Reaktionen auf das Stichwort Einfrieren. Spielt die SPD Putin in die Hände?

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Das zu behaupten ist infam und hat nichts mit ernsthafter außen- und sicherheitspolitischer Debatte zu tun. Wenn ich mir allerdings die aufgeregten und überdrehten Reaktionen von Bundestagsabgeordneten anderer Parteien auf die Rede von Rolf Mützenich anschaue, dann verstehe ich, dass man in Polen über diese deutsche Debatte irritiert ist.

Viele Menschen haben auch deshalb Angst vor einem Krieg, weil der Kanzler erklärt, wenn wir Taurus liefern, sind wir Kriegspartei. In der Opposition heißt es, die SPD schaue auf die Umfragen und bereite sich auf den Wahlkampf vor. Sie werde Scholz als Friedenskanzler darstellen. Was ist da dran?

Da muss ich doch die Stirn runzeln. Erst wird Scholz dafür kritisiert, dass er sich in Sachen Taurus nicht entscheidet. Dann entscheidet er, aber man ist mit dem Ergebnis unzufrieden. Und dann kommt eine Neuinterpretation: Wahlkampf! Wir sind in einer historischen Phase, ein brutaler Angriffskrieg findet zwei Flugstunden von uns entfernt statt. Mitten in Europa. Das prägt meine Generation. Und ich erwarte, dass der Bundeskanzler alles dafür tut, dass wir da rausgehalten werden. Olaf Scholz trägt als Kanzler die Verantwortung dafür. Er wird damit in den Geschichtsbüchern stehen, ob er die richtige Entscheidung getroffen hat oder nicht. Das treibt ihn um, nicht irgendwelche Umfragen. Und wenn er sich entschieden hat, hat er sich entschieden.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beobachtet eine Fähigkeitsdemonstration der Territorialen Verfügungsgruppe auf dem Militärflughafen Köln-Wahn.

Olaf Scholz, der Friedenskanzler – hilft sein Ukraine-Kurs der SPD?

Olaf Scholz will auf keinen Fall, dass Deutschland in der Ukraine Kriegspartei wird. Boris Pistorius spricht von „Kriegs­tüchtigkeit“ und Rolf Mützenich vom „Einfrieren“ des Konfliktes. Kann es der SPD mit diesem Dreiklang gelingen, wieder zur Volkspartei zu werden?

Nur sorgt sein Basta nicht für ein Ende der Debatte.

Viele Bürgerinnen und Bürger stellen mir nicht die Frage, wann wir Taurus liefern, sondern ob wir in Berlin garantieren, dass Deutschland nicht in den Krieg hineingezogen wird. Das ist es, was die Menschen bewegt. Frieden ist nicht gleichzusetzen mit Einknicken vor Putin, Frieden ist etwas sehr Erstrebenswertes.

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Viele Bürgerinnen und Bürger stellen mir nicht die Frage, wann wir Taurus liefern, sondern ob wir in Berlin garantieren, dass Deutschland nicht in Krieg hineingezogen wird.

Dann müssen Sie ja schaudern, wenn SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius von Kriegstüchtigkeit spricht.

Boris Pistorius muss den Reformstau der letzten 20 Jahre bei der Bundeswehr aufarbeiten. Er muss sich als Verteidigungsminister jederzeit vor die Bevölkerung stellen und sagen können: Ich kann garantieren, dass dieses Land sicher ist.

Ist das in diesen Zeiten nicht der perfekte Dreiklang für eine Volkspartei vor einer Bundestagswahl: Der Fraktionschef spricht über ein Einfrieren des Krieges, der Verteidigungsminister macht das Land kriegstüchtig und der Kanzler versichert, Deutschland werde nicht Kriegspartei?

In der Substanz ist der Weg der SPD sehr klar: Wir stehen geschlossen zusammen und geschlossen an der Seite der Ukraine. Wir unterstützen die Ukraine so umfassend, wie wir können, ohne selbst Kriegspartei zu werden, und immer eng abgestimmt mit unseren internationalen Partnern.

Sie haben ja noch andere Themen in der Koalition: Die FDP fordert eine Wirtschaftswende. Kommt die noch mit der Ampel?

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Wirtschaftliche Impulse, um das Land stark zu machen, gehören zu den entscheidenden Fragen für die zweite Hälfte der Legislaturperiode. Vieles haben wir schon geschafft: Ausbau erneuerbarer Energien, Fachkräftezuwanderung, Milliardeninvestitionen. Dieser Weg muss weitergehen. Nur: Es gibt da einen großen Knackpunkt. Wir stoßen bei den Schuldenregeln an Grenzen.

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Für wie wahrscheinlich halten Sie, dass die Schuldenbremse für den Haushalt 2025 ausgesetzt werden muss?

Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass wir den Haushalt hinbekommen, obwohl er eine riesige Herausforderung wird.

Dann ist ja alles gut. Ist die Angst vor dem Bundesverfassungsgericht inzwischen so groß, dass man nichts riskieren will?

Es ist doch klar, dass wir mit dem Krieg in der Ukraine und dem Klimawandel und den nötigen sozialen Absicherungen mehr investieren müssen, und dass das mit den jetzigen Schuldenregeln enorm schwierig wird. Deshalb werben wir für eine grundlegende Reform. Auch, weil wir nicht wollen, dass die Unterstützung der Ukraine gegen die notwendige Modernisierung unseres Landes ausgespielt wird. Beides muss möglich sein. Im Ausland macht man sich schon lustig, dass Deutschland die Schuldenbremse ins Schaufenster stellt und dafür wichtige Zukunftsinvestitionen verhindert. Wir sind da auf dem völlig falschen Weg.

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Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass es mit der Union zu einer Zweidrittelmehrheit zur Grundgesetzänderung der Schuldenbremse kommt?

Mittlerweile will die Mehrheit der Unionsministerpräsidenten bei der Schuldenbremse etwas ändern. Auch sie merken, dass wir gerade in einer Sondersituation sind und mehr in Sicherheit, Infrastruktur, wirtschaftliche Stärke – und auch in unsere Demokratie – investieren müssen. Sie wissen, dass das mit den Schuldenregeln, die wir derzeit haben, nicht geht.

Ich halte den Gedanken der Kindergrundsicherung für richtig. Aber als ich gehört habe, dass dafür 5000 Stellen geplant sind, war ich etwas verwundert.

Kommt eigentlich die Kindergrundsicherung noch? Es steht im Raum, dass dafür eine Behörde mit 5000 Mitarbeitern geschaffen werden muss.

Ich halte den Gedanken der Kindergrundsicherung für richtig und man sollte auch alles aus einer Hand machen: Kindergeld, Kinderzuschlag, Kindergrundsicherung. Aber als ich gehört habe, dass dafür 5000 Stellen geplant sind, war ich etwas verwundert. Ich glaube, dass man da noch reduzieren kann.

Was ist mit dem Bürokratieabbau?

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Bei den Beratungen über das Bürokratieentlastungsgesetz im Bundestag werden wir noch eine Schippe drauflegen. Die Unternehmen brauchen mehr Luft.

Die Bürgerinnen und Bürger auch.

Ja. Wir wollen das Leben der Menschen einfacher machen. Dafür hatten wir mal 400 Vorschläge für Streichungen von Vorschriften gemacht. Rund 150 sind übrig geblieben. Und ich finde, das sollten wir zumindest wieder verdoppeln.

Der ganz normale Bürokratiewahnsinn: Willkommen in der Regelrepublik Deutschland!

Die Bundesregierung will Bürokratie abbauen. Mal wieder. Doch gegen die deutsche Regelwut scheint kein Kraut gewachsen. Denn jemand muss ja die Fledermäuse zählen. Und halbe Brote vermessen. Und die Staatsangehörigkeit von Pferden regeln. Ein Land im Klammergriff des Verwaltungsirrsinns.

Ist das Renteneintrittsalter bei 67 Jahren zu halten? Die Union würde es erhöhen.

Mit der Union arbeiten die Menschen mehr, länger und bekommen weniger Rente. Mit der SPD wird das Renteneintrittsalter nicht erhöht. Wir tun vielmehr alles dafür, dass die gesetzliche Rente stabil bleibt. Wir sichern das Rentenniveau jetzt dauerhaft auf 48 Prozent ab. Würden wir das nicht tun, wäre das gerade gegenüber den heute jungen Beschäftigten unfair, die für ihre Beiträge weniger Rente bekommen würden.

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Die Ampel will Kreditzinsen in Aktien anlegen und daraus als zweites Bein der Rentenversorgung eine Generationenrente finanzieren. Wird auch noch ein Teil der Rentenbeiträge in Aktien angelegt?

Die Generationenrente war ein klassischer Kompromiss in den Koalitionsverhandlungen. Aber für uns war immer klar: Es wird nicht mit Beitragsgeldern spekuliert. Das, was die Menschen einzahlen, muss sicher sein. Mit der Rente wird nicht gezockt.

Das, was die Menschen einzahlen, muss sicher sein. Mit der Rente wird nicht gezockt.

Die Union will sogenannten Totalverweigerern unter Bürgergeldempfängern das Geld dauerhaft und komplett kürzen – bis auf die Mittel für Wohnen und Heizen. Hat das vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand?

Nein. Die Union überschlägt sich mittlerweile wöchentlich mit Angriffen auf den Sozialstaat, aber jetzt sogar so weit zu gehen, dass man nicht einmal verfassungsfest argumentiert, das wundert mich sehr.

Und die Standardfrage angesichts der Zerstrittenheit der Koalition: Wie lange hält sie noch?

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Standardantwort: Wir sind gewählt bis zum Herbst nächsten Jahres.

Der Haushalt ist keine Sollbruchstelle?

Der Haushalt wird anstrengend. Aber alle wissen ja, worum es geht. Und alle sollten sich zusammenreißen und sich bewusst machen, in welcher Situation dieses Land ist – die ganze Welt ist. Also die Befindlichkeiten ein bisschen zurückstellen und den Job erledigen. Ich wünsche mir, dass die Koalition die Kraft hat, erfolgreich weiterzuregieren.



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