Kiel. Im Januar 2021 ersticht eine Frau in Wellingdorf ihren langjährigen Freund und zugleich Peiniger in der gemeinsamen Wohnung. Bereits die ersten Erkenntnisse der Polizei deuten auf massive Gewaltübergriffe des Mannes und eine Tat in Notwehr hin. Drei Jahre später hat das Landgericht Kiel nun diese Einschätzung bestätigt. Trotz Anklage der Staatsanwaltschaft wird es nicht zu einem Prozess kommen.

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Für die heute 37-Jährige war das dreijährige Verfahren eine starke Belastung. Der Kieler Rechtsanwalt Momme Buchholz hat sie in dieser Zeit vertreten und gibt einen Einblick in den Fall und die Vertretung von Gewaltopfern.

Tat in Notwehr in Kiel: Körperlicher Gewalt folgt mentale Belastung

„Unsere Mandantin sah sich über drei Jahre einem Strafverfahren wegen dieser Tat und damit einem schrecklichen Verdacht ausgesetzt“, sagt Buchholz. Rechtlich sei sie nun rehabilitiert. Doch mit dem Verdacht habe man sie in den vergangenen Jahren im beruflichen und privaten Umfeld ständig konfrontiert. Und nach dem jahrelangen Martyrium mit zig Gewalterlebnissen sei auch das Strafverfahren ein solches gewesen.

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Stütze man eine Verteidigung auf Notwehr, sei es ratsam, dass sich die Mandantin zum Geschehen äußert, so Buchholz. Doch die Vorbereitung auf eine Äußerung vor Gericht zeitgleich zur Aufarbeitung des traumatischen Erlebnisses sei nahezu unmöglich. „Die Mandantinnen können nicht parallel den Sachverhalt mit ihren Anwälten besprechen und deren kritische Nachfragen beantworten“, sagt der Kieler Rechtsanwalt. „Auch die Konfrontation mit dem Akteninhalt, Tatortbildern, Zeugenaussagen, Verletzungsspuren ist kaum zu ertragen.“

Staatsanwaltschaft Kiel erhebt Anklage wegen Totschlags

Seiner Mandantin aus Wellingdorf blieb eine Aussage erspart. Laut Buchholz war dies auch deshalb möglich, weil sich in der Akte zahlreiche Aussagen von Zeuginnen und Zeugen und andere Beweismittel fanden, die die Gewaltausbrüche des späteren Opfers belegten. Zu keinem Zeitpunkt nach der Tat saß die Kielerin in Untersuchungshaft.

Dennoch erhob die Kieler Staatsanwaltschaft im April 2022 Anklage wegen Totschlags gegen sie. Aus Sicht des Kieler Juristen Buchholz ging die Behörde in dieser zwar auf die gewalttätige Vorgeschichte des Mannes ein, habe sich aber nicht mit dem Aspekt der Notwehr auseinandergesetzt.

Landgericht Kiel sieht keinen hinreichenden Tatverdacht

Rund zwei Jahre später liegt eine Entscheidung des Kieler Landgerichts jetzt auf dem Tisch. Die zuständige Strafkammer hat die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Sie sehe keinen hinreichenden Tatverdacht, berichtet ein Gerichtssprecher.

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Stattdessen gebe es in der Akte deutliche Hinweise darauf, dass es vor der Tat zu massiven körperlichen Übergriffen des Mannes gekommen sei. Die Anhaltspunkte für Notwehr seien „deutlich und gehäuft“.

Die Staatsanwaltschaft hatte zunächst fristwahrend sofortige Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt. Das bestätigt Oberstaatsanwalt Axel Bieler. „Die Beschwerde ist letztlich zurückgenommen worden, weil wir dem Rechtsmittel angesichts des sorgfältig begründeten Beschlusses keine Erfolgsaussichten beigemessen haben.“ Die Strafkammer hatte ihren Beschluss auf rund 30 Seiten begründet.

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Für Momme Buchholz ist das Geschehen im Januar 2021 in Wellingdorf kein Einzelfall. Der Rechtsanwalt verteidigt derzeit noch einen weiteren Fall, in dem eine Frau ihren jahrelangen Peiniger getötet hat. Buchholz sagt: „Gewalt von Männern gegen Frauen stellt ein unterschätztes Problem unserer Zeit dar.“ Und: Die Wirkung von Strafverfahren auf dieses Problem sei begrenzt. „Eine wirksame Einflussnahme auf eine in einem konkreten Einzelfall gipfelnde gesellschaftliche Fehlentwicklung kann hier nicht mehr stattfinden.“

KN



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