Trümmerteile fallen auf Straßen, Autos fangen Feuer, Fenster zerspringen: Ein Angriff wie diesen gab es in der ukrainischen Hauptstadt schon lange nicht mehr. Mitten in der Nacht wurden die Menschen in der Millionenstadt von Sirenenalarm aus dem Schlaf gerissen, als Russland Kiew mit einer neuen Angriffswelle überzog. Mehr als 25.000 Menschen, darunter rund 3.000 Kinder, flüchteten in die U-Bahn-Schächte, die ihnen schon zu Kriegsbeginn Schutz boten.

44 Tage lang war Kiew nicht mehr im Visier russischer Angriffe. Doch mit insgesamt 151 Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen kam es am Freitag zu einem der schwersten Luftangriffe überhaupt. Die ukrainische Flugabwehr will landesweit 37 von 47 Marschflugkörpern und 55 Drohnen abgeschossen haben. Mehrere Raketen der Typen Kinschal, Iskander und Ch-22 schlugen dennoch in einigen Wohnvierteln ein. Herabfallende Trümmerteile trafen Häuser, Straßen und Fahrzeuge. Seit dem Kriegsbeginn gab es nur nach Weihnachten 2023 einen ähnlich großen Angriff mit 158 Drohnen und Raketen, nach dem Jahreswechsel 2024 wurde es etwas ruhiger in Kiew. 

Dabei steht nun neben Kiew auch die Schwarzmeerstadt Odessa wieder im Fokus der russischen Angriffe. Am vergangenen Freitag wurden mehr als 20 Menschen getötet und 70 verletzt – darunter viele Rettungskräfte, die zu Hilfe geeilt waren. In der Nacht zum Donnerstag erfolgte ein Angriff mit mehr als 30 Raketen und Marschflugkörpern, die alle Kiew galten. Alle davon wurden nach ukrainischen Militärangaben abgeschossen. 

Doch darauf folgte der Großangriff auf die Energieinfrastruktur, diesmal landesweit. Mit acht Raketen beschossen wurde unter anderem das Wasserwerk, das das Atomkraftwerk Saporischschja mit Strom versorgt. In mindestens sieben Regionen fiel der Strom aus. Das Energieministerium bezeichnete die Attacke als den schwersten Angriff auf die Energieversorgung in der jüngsten Zeit.

Dass sich diese schweren Angriffe exakt in dieser Woche häufen, ist kein Zufall. Sind sie womöglich eine Reaktion auf Angriffe auf russische Ölraffinerien in den vergangenen Wochen? Es sei auch möglich, dass die Angriffspause auf Kiew, die den Attacken vorausging, auf Reparatur- und Planungsprobleme
zurückzuführen sei, schreibt das britische Verteidigungsministerium. Westliche Sanktionen gegen Russland hätten Kapazitäten für größere Angriffe eingeschränkt. “Die anhaltenden Erfolge der ukrainischen Flugabwehr haben wahrscheinlich ebenfalls die Planung russischer Einsätze erschwert”, schreibt das Ministerium. Auf jeden Fall werde Russland seine Angriffe auf kritische Infrastruktur
fortsetzen, sofern Flugzeuge, Besatzungen und Waffenvorräte dies
zulassen – und damit den Druck auf die ukrainische Regierung und
Bevölkerung aufrechterhalten. 

44 Tage lang war Kiew nicht mehr im Visier russischer Angriffe. © Sergei Chuzavkov/​AFP/​Getty Images

Eine weitere Möglichkeit: Russland könnte auch gewartet haben, bis die ukrainische Flugabwehr ihre Vorräte erschöpft hat. Entsprechende Warnungen hatten sich zuletzt gehäuft. Dass die neue Angriffswelle keine Spontanreaktion, sondern lange geplant gewesen sei, sagt der ukrainische Energieexperte Alexander Chartschenko dem Nachrichtenportal RBK Ukrajina. Zwischen den Attacken auf die Ölraffinerien und den Luftangriffen in der Ukraine sei zu wenig Zeit vergangen, um letztere zu planen. “Möglicherweise haben sie den Angriff lange vorbereitet und nun gezielt eingesetzt, um die Partner der Ukraine zu provozieren
und einzuschüchtern.” 

Die Attacke in Kiew ereignete sich zeitgleich, als das erste Mal seit
Kriegsbeginn eine Nato-Delegation mit Militärchef Rob Bauer in der Stadt
aufhielt. Wenige Stunden vorher reiste auch der US-Sicherheitsberater
Jake Sullivan nach Kiew.


Die wichtigsten Meldungen: Angriff auf Militärflugplatz, russische Vermögenswerte

Die Ukraine intensiviert ihre Angriffe auf strategisch
wichtige Ziele in Russland
. Im Visier war dabei auch ein
Militärflugplatz im Ort Engels im südrussischen Gebiet Saratow. Hier hat
Russland strategische Bomber für Raketenangriffe
auf die Ukraine stationiert
, auch das weltweit größte und
schwerste Militärflugzeug vom Typ Tupolew Tu-160 startet von diesem
Flugplatz aus. Dort gab es in den vergangenen Tagen
Drohnenangriffe, die Russland aber abgewehrt haben will.

Die Lage in der russischen Grenzregion Belgorod spitzt sich zunehmend zu. Die Region gilt als ein
wichtiges Aufmarschgebiet für die russische Armee. Die Ukraine hatte ihre Angriffe auf Grenzregionen während der russischen Präsidentschaftswahl verstärkt, zudem starteten proukrainische Einheiten, die sich aus russischen
Kämpfern zusammensetzen
, Angriffe in Grenznähe. In der Region herrscht zunehmend eine schlechte Versorgungslage an. Die regionalen Behörden wollen rund 9.000 Kinder in Sicherheit bringen.  

Die Region Belgorod gilt als ein wichtiges Aufmarschgebiet für die russische Armee. © AFP/​Getty Images

Wegen der Materialmängel in der ukrainischen Armee will die EU schneller
Militärhilfe leisten
. “Wir beschleunigen unsere militärische
Unterstützung – Munition, Raketen, Luftverteidigungssysteme”, teilte
EU-Ratspräsident Charles Michel mit
. Dafür plant die EU, die Zinsen aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten auch für militärische Zwecke zu nutzen. Das Geld soll in militärische Ausrüstung und Ausbildung ukrainischer Soldaten fließen. Pro Jahr könnten so rund drei Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung stehen. Während manche EU-Staaten wegen juristischer Bedenken zögern, will Estland sogar noch einen Schritt weiter gehen und die gesamten eingefrorenen Vermögenswerte nutzen. 


Das Zitat: Mit Munition allein wird der Krieg nicht gewonnen

Nach mehr als zwei Jahren Krieg steht die Ukraine vor großen Problemen: Munitions- und Soldatenmangel. Mit Munition allein wird der Krieg nicht gewonnen – das sehen sowohl die Ukraine als auch die Nato-Länder so. Die Regierung in Kiew will langfristig Hunderttausende neue Soldaten einziehen, um die aktuellen Lücken zu schließen und altgediente Soldaten zu entlasten. Doch die Mobilmachung in der Ukraine ist schwierig, ein entsprechendes Gesetz hängt seit Wochen im Parlament fest. “Ich
verstehe, dass es in einer liberalen Demokratie nicht einfach ist, die
Menschen zu überzeugen. Aber ich sehe, dass sich das ändert”, sagt der Nato-Militärchef Rob Bauer bei einem Besuch in Kiew.

Ihr braucht nicht nur Granaten, ihr braucht auch Menschen, um die Getöteten und Verletzten zu ersetzen. Und das bedeutet eine Mobilmachung.

Rob Bauer, Chef des Nato-Militärausschusses

Auch in Russland ist die Mobilmachung wieder ein Thema. Seit der Teilmobilisierung im Herbst 2022 hatte die russische Führung das Thema konsequent vermieden, um vor allem den Krieg aus dem Alltag der Menschen in großen Metropolen
herauszuhalten. Doch nun ist die Präsidentenwahl vorbei und die Frage schleicht sich in die Diskussion ein. Selbst der Sprecher von Präsident Wladimir Putin, Dmitri Peskow, sagt es: Russland befinde sich inzwischen im Kriegszustand. “Jeder muss das verstehen, um sich persönlich zu mobilisieren.”


Weitere Nachrichten: Rekrutierung in Russland, Verfolgung in besetzten Gebieten

  • Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas rechnet mit einer weiteren
    Mobilisierung russischer Soldaten.
    Die russische Führung werde jetzt “wahrscheinlich ein paar Entscheidungen treffen, die selbst in Autokratien unpopulär sind”, sagte sie in Berlin. Zugleich werde das Regime in Moskau nach neuen Wegen zur Finanzierung seiner Kriegsmaschinerie suchen. Die Ukraine rechnet damit, dass Russland bis zu 100.000 neue Soldaten rekrutieren könnte.
  • Das Parlament in Tschechien hat Russland zur größten Sicherheitsgefahr für
    den EU- und Nato-Mitgliedsstaat erklärt. In einer Entschließung heißt es, das
    “terroristische Regime in Russland”
    versuche, seine Einflusssphäre
    auf die Ukraine und weitere Länder Europas auszudehnen
    . Dies gehe mit Kriegsverbrechen einher.
  • Das UN-Menschenrechtsbüro wirft Russland vor, in den besetzten
    ukrainischen Gebieten Menschenrechtsbrüche zu begehen. In den russisch
    kontrollierten Gebieten hätten die Besatzer ein “Klima der
    Angst” geschaffen
    , das von willkürlichen Inhaftierungen und Folter beherrscht
    werde. Dort werde die ukrainische Identität unterdrückt, russische Lehrpläne an Schulen durchgesetzt und ukrainische Medien blockiert. Die russischen Besatzer forderten die Menschen auf, einander anzuzeigen.
  • Wegen der intensiven russischen Angriffe auf die nordöstliche ukrainische Grenzregion Sumy soll dort die Zivilbevölkerung in Sicherheit gebracht werden. Hunderte Menschen
    seien bereits aus den gefährdeten Gebieten
    geholt worden, teilten Behörden der Region mit. 

Waffenlieferungen und Militärhilfen: Nachschub im Frühling, Mangel im Sommer

  • Raum zum Atmen” an der Front verspricht Tschechien, indem es der Ukraine mindestens 300.000 Geschosse zusichert. Die Regierung in Kiew rechnet damit, dass erste Lieferungen schon in wenigen Wochen eintreffen und im April eingesetzt werden können.
  • Eine kleinere Lieferung kommt aus Deutschland: Die Bundeswehr will der Ukraine kurzfristig 10.000 Artilleriegeschosse überlassen. Diese seien Teil eines weiteren Hilfspakets, zu dem außerdem 100 geschützte Infanteriefahrzeuge und 100 Logistikfahrzeuge sowie Ersatzteile gehören sollen, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius.
  • Panzerabwehrkanonen, Sprengstoff und Gasmasken: Das EU- und Nato-Land Estland wird der Ukraine weitere Militärhilfe im Wert von 20 Millionen Dollar zur Verfügung stellen. Für den Sommer braucht die Ukraine vor allem neben Munition und Flugabwehrsysteme auch Ersatzteile und elektronische Kriegsausrüstung.
  • Militärhilfen im Wert von 350 Millionen Euro kommen auch aus den Niederlanden. 150 Millionen Euro sollen nach Angaben des niederländischen Verteidigungsministeriums in Luft-Boden-Waffen für F-16-Kampfjets fließen. Die Ukraine soll ab dem Sommer die ersten zugesagten F-16-Jets von den Niederlanden und Dänemark erhalten. 200 Millionen Euro sind für Drohnen bestimmt.
  • Die sogenannte Drohnenkoalition bekommt ein weiteres Mitglied: Australien schließt sich der Initiative an, die Großbritannien und Lettland vor wenigen Wochen ausgerufen haben. Über das Bündnis sollen so Tausende unbemannte Luftfahrzeuge für die Ukraine gesammelt und geliefert werden.

Was jetzt? – Der Nachrichtenpodcast:
Propagandagefechte auf russischem Boden


Die besten Texte: Munition und Defensive

Zum Schluss präsentieren wir an
dieser Stelle die besten ZEIT- und ZEIT-ONLINE-Artikel zum Krieg in der
Ukraine aus der vergangenen Woche.
  

  • “Tödliche Propagandaschlacht”: Bombenkrater, verbrannte Autos, herumliegenden Schutt: Seit Wochen steht die russisch-ukrainische Grenze unter Beschuss. Doch die russische Seite versucht, die Kämpfe größer aussehen zu lassen, als sie eigentlich sind. Und auch von ukrainischen Militärbloggern wird wohl gezielt Desinformation gestreut, schreibt ZEIT-ONLINE-Autor Maxim Kireev.
  • “Frühjahrs-Defensive”: Sollte die Ukraine eine Niederlage erleiden, wären die Konsequenzen auch für Europa kaum absehbar. Der Westen und auch Deutschland wären politisch,
    militärisch und moralisch gescheitert. Wann, wenn nicht jetzt, wollen die Nato-Staaten einen Plan entwickeln, fragt ZEIT-Politikchef Heinrich Wefing in seinem Kommentar.
  • “So will Tschechien die ukrainische Munitionsnot lindern”: Das Nato-Land Tschechien ist auf einer Munitionsmission. Es will in kürzester Zeit weltweit 800.000 Artilleriegranaten für die Ukraine besorgen. Warum die Tschechen mit ihrem Vorstoß tatsächlich erfolgreich sein könnten, analysieren Maxim Kireev und Kilian Kirchgeßner. 

Verfolgen Sie alle aktuellen Entwicklungen im russischen Krieg gegen die Ukraine in unserem Liveblog.





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