Kritik an postkolonialen Theorien hat Konjunktur. Sie mäandert zwischen Bauchgefühl und revanchistischer Identitätspolitik. Zeit für eine Verteidigung.
Ein Gespenst geht um in Deutschland – „die postkoloniale Theorie“. Als monolithischer Block gerahmt und fälschlicherweise oft auch als „Postkolonialismus“ tituliert, taucht sie in Reden von Politiker*innen ebenso auf wie in Artikeln, Tweets und Stellungnahmen von Journalist*innen und Wissenschaftler*innen. Zuletzt hat auch Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, mit seiner Kritik am „Postkolonialismus“ wiederholt für Schlagzeilen gesorgt.
Kurz zusammengefasst lesen sich die Vorwürfe wie folgt: Postkoloniale Theorie leiste dem Antisemitismus von links Vorschub, verbreite eine zunehmende „Cancel-Culture“ an Universitäten, vertrete eine binäre Konstruktion der Welt in Gut und Böse und drücke sich in Hass auf Weiße aus.
Durch diese massiven Angriffe scheint sich hierzulande rasch ein Fenster zu schließen, das gerade erst mühsam einen Spalt weit geöffnet wurde: die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte und ihrer historischen Zusammenhänge zum rassenideologischen Vernichtungsprojekt des „Dritten Reichs“. Geschichtsrevisionistischen Akteuren wie der AfD kann dies nur gelegen kommen, fragte diese doch bereits 2022 im Bundestag, ob die Bundesregierung „die Einstellung der Förderung aller Projekte [erwägt], die in einem affirmativen Zusammenhang mit der postkolonialistischen Theorie stehen“.
Bauchgefühlswissenschaft von Diskursunternehmern
Man kann sich den gegenwärtigen Attacken auf postkoloniale Theorien auf zwei Wegen annähern. Der eine ist der einer wissenschaftlichen Kritik. Die Argumente der „Poko-Kritiker*innen“ werden auf ihre logische Kohärenz, Qualität der Argumente und vor allem auch auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft. Im wissenschaftlichen Kontext meint Letzteres vor allem Quellentreue und Überprüfbarkeit: Kann die Aussage anhand der Literatur belegt werden?
Aber damit ist es noch nicht getan. Wissenschaft lebt auch von Kontextwissen. Man kann sich schnell in ein Buch einlesen oder vorgeben, dies getan zu haben; das bedeutet allerdings nicht, dass man ein ganzes Feld überblickt. Genau aus diesem Grund beschäftigen sich Wissenschaftler*innen oft Jahre mit einem Gegenstand. Publikationen werden durch kollegiales Feedback, Gegenlektüre und Peer-Review-Verfahren überprüft. Dass sie dann immer noch anfechtbar sind, ist ein Kern der Wissenschaft.
Gerade diese Qualitätskriterien vermissen wir jedoch in der im Moment sehr schrill geführten Debatte über „den Postkolonialismus“. Während verzerrende Darstellungen in der Debatte für einige Medienschaffende zum Geschäftsmodell gehören, ist die Bauchgefühlkritik an postkolonialen Studien besonders besorgniserregend, wenn Wissenschaftler*innen ohne verbriefte Expertise zum Thema ein Zerrbild der postkolonialen Studien entwerfen.
Kein Überstehen wissenschaftlicher Prüfungsverfahren
Dies lässt sich gut an der am 27. Oktober 2023 im Nachgang zum Hamas-Massaker vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit veröffentlichten Stellungnahme „Ist eine,Dekolonisierung’ von Wissenschaft und Forschung erforderlich?“ verdeutlichen. Obwohl „postkoloniale Theorie“ noch immer eher ein Randdasein in Universitätscurricula fristet, wird sie in der Stellungnahme als „hegemoniale Strategie“ bezeichnet. Regelmäßig würden ihre Vertreter*innen zudem die Shoa relativieren. Die öffentlichen Statements und Buchprojekte einiger an diesem Netzwerk beteiligten Kolleg*innen schlagen in dieselbe Kerbe, würden aber sicherlich keine wissenschaftliche Peer Review oder andere wissenschaftliche Prüfungsverfahren überstehen.
Ein Blick in die Literatur zeigt hingegen, dass es viele wichtige Berührungspunkte zwischen postkolonialen Perspektiven auf Rassismus, Kolonialismus und Faschismus und der Beschäftigung mit eliminatorischem Antisemitismus gibt. Stellvertretend seien hier die Arbeiten von Frantz Fanon und Hannah Arendt genannt. Ersterer wurde in seinem radikalen Humanismus nicht nur vom Kampf gegen den Faschismus als Soldat der Freien Französischen Streitkräfte beeinflusst, sondern auch von Jean-Paul Sartres 1946 erschienenem Buch „Überlegungen zur Judenfrage“; Letztere wollte ihr Hauptwerk, „Die Ursprünge des Totalitarismus“, ursprünglich „Elemente der Schande: Antisemitismus – Imperialismus – Rassismus“ nennen.
In der deutschsprachigen Debatte werden diese Zusammenhänge allerdings kaum behandelt. Vielmehr sind Kritiker*innen des Postkolonialismus mit ihrem Bauchgefühlswissen als Diskursunternehmer*innen überaus erfolgreich. Ihre Kampfpamphlete werden als intellektuell bedeutsame Beiträge gehandelt und zu Ankerpunkten der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie.
Rechte Metapolitik
Ein zweiter Weg der Auseinandersetzung mit den Kritiker*innen des Postkolonialismus besteht darin, diese Akteure selbst als Teil einer autoritär-illiberalen Wende zu begreifen, in deren Kontext rechte, konservativ-bürgerliche, liberale und teilweise auch linke Stimmen mit ähnlichen Argumenten auftreten.
Stilprägend für diese Wende ist der ideologische Star der Neuen Rechten in den USA, Christopher Rufo. Der ehemalige Berater von Donald Trump und Ron DeSantis hatte zuletzt mit einer massiven Zensur von Schul- und Universitätslehrplänen in Florida von sich reden gemacht. In einem Tweet vom 13. Oktober vergangenen Jahres forderte Rufo, man müsse sich die Kernbegriffe linker, progressiver Bewegungen herauspicken und diese über geschickte assoziative Verkettungen in solcher Weise neu aufladen, dass auch Akteure von rechts bis links der Mitte nicht anders könnten, als diese Begriffe zu ächten.
Konkret sollen seiner Vorstellung nach „starke Assoziationen“ zwischen Hamas, der Bewegung Black Lives Matter, den Democratic Socialists of America und wissenschaftlicher „Dekolonisierung“ geschaffen werden – um sie daraufhin in einem Zug zu attackieren, zu delegitimieren und zu diskreditieren.
Rufos Strategie ist in den USA bereits bestens aufgegangen. Der Philosoph Alberto Toscano hat dies jüngst in seinem Essay „The War on Education – in Gaza and at Home“ eindringlich beschrieben. Die politischen Verhältnisse der USA lassen sich zwar nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen. Aber auch bei uns tappen selbst Stimmen, die sich als liberal verstehen, en masse in die Diskursfalle der Neuen Rechten.
Deutsche Variante der Critical Race Theory
Postkoloniale Theorien ereilt damit hierzulande das gleiche Schicksal wie die Critical Race Theory in den USA. Dank Rufo und anderen Kulturkämpfer*innen fungiert der Begriff dort längst als leerer Signifikant, um Stimmungsmache zu betreiben. Er kann beliebig zu Themen mit links-progressivem Bezug eingestreut werden, um einen Punkt gegen „woke“ Eliten zu erzielen.
Der Angriff auf die postkolonialen Theorien ist der Versuch, an den eigenen Privilegien und der Deutungshoheit über Geschichte festzuhalten
Erklärt werden müssen solche leeren Signifikanten nicht weiter, beziehen sie doch ihre Bedeutung gerade nicht aus Recherche, Quellen, Wissen und Belegen, sondern vor allem aus den Assoziationen mit anderen Wörtern. Diese werden dann zu einem vermeintlichen Bedrohungsszenario verdichtet und in ein allgemeines Ressentiment umgewandelt. Hier hat die neue „Neue Rechte“ erfolgreich von der französischen Nouvelle Droite gelernt, die bereits seit den 1970ern Jahren einen Gramscianismus von rechts propagiert.
Auch im deutschsprachigen Raum trägt deren assoziative Metapolitik zunehmend Früchte. Wer heute „Postkolonialismus“ hört, hört gleichzeitig „Wokeness“, „Antisemitismus“, „Cancel Culture“, „Rassismus gegen Weiße“ etc. Auch im linken und liberalen Spektrum dürfte nicht immer allen klar sein, wessen politischen Strategien sie mit der Umarmung einer oberflächlichen Kritik am Postkolonialismus gerade aufsitzen.
Gleichzeitig wäre es zu einfach, die lagerübergreifenden Angriffe auf „den Postkolonialismus“ nur als Ergebnis einer erfolgreichen rechten Metapolitik zu begreifen. Was die Protagonisten eint, ist die Artikulation einer auf Bestandswahrung ausgerichteten Identitätspolitik, die revanchistisch auf die unbequemen Fragen postkolonialer Theorien beziehungsweise im Falle der USA der Critical Race Theory reagiert. Dieser identitätspolitische Pushback ist Ausdruck des Versuchs, mit aller Kraft an den eigenen Privilegien und der Deutungshoheit über Geschichte und Gesellschaft festhalten zu wollen.
Ohne postkoloniale Theorien kein Frieden
Eine friedliche und inklusive Zukunft in Israel/Palästina kann ohne die Einsichten postkolonialer Theorien nicht realisiert werden
Die mit dem 7. Oktober einsetzende Gewaltexplosion ist die massivste Zuspitzung seit Langem eines Jahrzehnte andauernden Konfliktes. Dieser Konflikt geht nicht zuletzt auf die Staatsgründung Israels zurück, die – obgleich ihrer Notwendigkeit in der Folge der Shoa – im Rahmen einer sehr langen Geschichte kolonialer Herrschaftsverhältnisse und Mandatspolitiken innerhalb der Region zu verorten ist. Daran erinnert auch der jüdische Erziehungswissenschaftler und Erstunterzeichner der Jerusalem-Deklaration gegen Antisemitismus Micha Brumlik in seinem Buch „Postkolonialer Antisemitismus?“.
Man kann postkoloniale Theorien freilich auch im Hinblick auf Widersprüche, nicht schlüssige oder anderweitig problematische Argumentationen diskutieren. Eine friedliche und inklusive Zukunft in Israel/Palästina kann aber ohne die Einsichten postkolonialer Theorien nicht realisiert werden. Gerade weil ihre Vertreter*innen Fragen der Verteilung und Kontrolle von Land, der Entstehung menschenfeindlicher Kategorisierungen, Ausschlussmechanismen und multidirektionaler Gewaltverhältnisse ins Zentrum ihrer Analysen stellen, bieten sie eine überaus nuancierte Analyse des Nahostkonflikts an.
Sie erinnern uns auch daran, dass insbesondere Deutschland aufgrund der Shoa nicht nur eine besondere Verpflichtung gegenüber jüdischen Menschen in und jenseits von Israel und dem Kampf gegen Antisemitismus hat, sondern auch gegenüber dem palästinensischen Volk.