Die Kriminalisierung von Mi­gran­t:in­nen und Hel­fe­r:in­nen in der EU nimmt zu. Das Steuern eines Boots kann Jahrzehnte im Gefängnis nach sich ziehen.

Motorsegler helfen Migranten aus einem kentergefährdeten, überfüllten Stahlboot in ihr Dinghi umzusteigen.

Könnte schon strafbar sein: Segler helfen an der Küste von Lampedusa Migranten aus einem überfüllten Boot Foto: Leon Salner/picture alliance

Seenotrettung, Unterbringung oder bloße Verteilung von Lebensmitteln: 2023 standen in der EU mindestens 117 Personen vor Gericht, weil sie sich mit Mi­gran­t:in­nen solidarisiert hatten. Das ergab eine Auswertung der NGO Picum (pdf). Die meisten wurden demnach wegen Beihilfe zur illegalen Einreise oder zum Aufenthalt oder wegen der Schleusung von Mi­gra­nt:in­nen angeklagt.

Die Zahlen steigen der Untersuchung zufolge seit Jahren an, seien aber „nur die Spitze des Eisbergs“, sagte Picum-Direktorin Michele LeVoy. Die Dunkelziffer sei hoch, offizielle Statistiken gebe es nicht. LeVoy kritisierte, dass die EU bei der Bekämpfung des Menschenschmuggels auch weiterhin humanitäre Handlungen nicht von einer möglichen Kriminalisierung ausnehmen will. Die meisten der registrierten Fälle gab es der Untersuchung zufolge in Italien (74), gefolgt von Griechenland (31). In Lettland wurden zwei Bür­ge­r:in­nen wegen Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt, weil sie Migrant:innen, die an der Grenze zu Weißrussland gestrandet waren, Lebensmittel und Wasser gaben.

„Die Kriminalisierung der Solidarität mit Migranten ist eng mit der Kriminalisierung der Migration selbst verknüpft“, sagte LeVoy. Es handele sich um „ein Kontinuum restriktiver Migrationspolitiken, die den Grenzübertritt unsicher machen und ein feindliches Umfeld für diejenigen schaffen, die als irregulär eingereist gelten“.

Seit 2020 regelt etwa in Griechenland ein Gesetz den Straftatbestand der Beihilfe zur illegalen Einreise neu. Seither kann praktisch jede Form der Unterstützung – medizinische Versorgung, Transport, Seenotrettung innerhalb der Hoheitsgewässer oder die Ausgabe von Lebensmitteln – strafrechtlich verfolgt werden, wenn die Personen noch nicht behördlich registriert, also gerade angekommen sind. Hilfeleistung ist zwar theoretisch erlaubt, Hel­fe­r:in­nen müssen sich aber zuvor mit den Behörden, etwa der Küstenwache, koordinieren. Diese kann die Unterstützung ablehnen. Werden die Hel­fe­r:in­nen trotzdem aktiv, droht ihnen Strafverfolgung.

Mit­ar­bei­te­r:in­nen von Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Griechenland berichten der taz, dass sie in Notfällen nicht einmal Schwangere oder Menschen mit Knochenbrüchen, die an den Küsten der Ägäis-Inseln ankommen, versorgen können, ohne juristische Folgen befürchten zu müssen. Würde man sich bei Hilfseinsätzen mit anderen NGOs koordinieren, könnte dies als „organisiertes Verbrechen“ ausgelegt werden.

Beihilfe zur illegalen Einreise wird in Griechenland mit zehn Jahren Haft geahndet – pro Person. Zwar sei es bisher nicht zu Gerichtsverfahren gegen Eu­ro­päe­r:in­nen gekommen, „aber es ist ein sehr schmaler Grat, auf dem wir uns hier bewegen“, sagt ein Koordinator von MSF. Umso mehr Verfahren gibt es gegen Geflüchtete, die wegen Schlepperei angeklagt werden, weil sie Boote gesteuert haben. In Griechenland würden Ankommende von der Polizei unter Druck gesetzt, um Mitfahrende zu beschuldigen. „Sie versuchen, einen pro Boot dranzukriegen“, sagte eine Sprecherin der NGO Border Violence Monitoring Network in Griechenland.

Nach einer Zählung der NGO Borderline Europe saßen schon 2022 über 2.000 Mi­gran­t:in­nen nach solchen Verfahren in griechischen Gefängnissen. 2022 wurden laut Borderline Europe mindestens 1.374 Personen wegen Schmuggels verhaftet, in Italien waren es 2022 und 2023 insgesamt 550. Eine Auswertung von 81 Verfahren in Griechenland aus 2022 und 2023 ergab, dass die Verhandlungen im Schnitt 37 Minuten dauerten. Am Ende stand eine durchschnittliche Haftstrafe von 46 Jahren.

Derweil bekamen am vergangenen Samstag in Valetta Abdalla Bari, Amarah Kroma und Abdul Kader den Preis für Menschenrechtsverteidiger der Universität Malta von Maltas Ex-Präsidentin Marie-Louise Coleiro Preca überreicht. Die drei sind seit Dezember 2023 auf Malta wegen Terrorismus angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, den Öltanker „El Hiblu 1“ entführt zu haben, nachdem sie 2019 mit über 100 weiteren Geflüchteten von der Besatzung aus Seenot gerettet worden waren. Ihnen drohen 30 Jahre Haft, obwohl die damals Minderjährigen nach Zeugenaussagen zwischen dem Kapitän und aufgebrachten Mi­gran­t:in­nen vermittelt hatten. Coleiro Preca nannte den Prozess gegen die jungen Männer eine „Farce.“



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