In Gaza lassen Hunger und israelische Angriffe die Menschen verzweifeln. Zeitgleich kehren wenige Kilometer entfernt Israelis in ihre Häuser zurück.

Menschen sitzen auf Stühlen im Freien und deuten in die Ferne

Blick nach Gaza auf den Hügeln in Sderot Foto: Felix Wellisch

Vom „Journalistenhügel“ in Sderot in Sichtweite des Gazastreifens ist der Krieg nicht mehr zu ­sehen. Weniger als ­einen Kilometer entfernt liegt die Grenze zwischen niedrigen Hügeln, grün von den Regenfällen des Winters. Ein junges Pärchen hat sich auf Plastikstühlen niedergelassen, um in der Nachmittagssonne die Aussicht zu genießen. Knapp fünf Monate nach dem Hamas-Überfall hat die Armee Sderot und 17 weitere Orte in unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen als sicher für eine Rückkehr erklärt. Doch längst nicht alle sind bereit, an den Rand des Kriegsgebiets zurückzuziehen – anderen reicht eine Rückkehr in die Nähe des Küstenstreifens nicht aus.

Wenige hundert Meter vom Hügel entfernt über der Einfahrt nach Sderot prangt ein Banner mit der Aufschrift „Willkommen den Rückkehrern“. Direkt daneben hat jemand ein Plakat aufgestellt, das eine durchgestrichene Rakete zeigt. „Keine Rückkehr ohne Sicherheit“ steht darauf.

Näher als in Sderot kann man dem Schrecken des Krieges in Gaza in Israel kaum kommen. Auf der anderen Seite der Grenze wurden am Donnerstag laut der palästinensischen Gesundheitsbehörde mehr als einhundert Menschen getötet, die sich um einen Konvoi mit Hilfsgütern versammelt hatten. Die von der Hamas geleitete Behörde beschuldigte die israelische Armee, geschossen zu haben. Die Armee gab an, der Großteil der Menschen sei während einer Panik niedergetrampelt oder überfahren worden.

Hier in Sderot haben auf der Herzlstraße im Stadtzentrum die meisten Bäckereien, Supermärkte und Restaurants wieder geöffnet. Zahlreiche Häuser wirken nach wie vor verlassen. Asher Abitbol, Häkelkippa und graue Locken, lädt Einkäufe ins Auto.

Die Schulen öffnen wieder

„Natürlich müssen wir den Gaza­streifen wieder besiedeln“, sagt er. Nur die Anwesenheit von Siedlern und der israelischen Armee in Gaza würde Kontrolle und damit Sicherheit zurückbringen. Abitbol lebt in der völkerrechtlich illegalen Siedlung Psagot im besetzten Westjordanland. „Wir begleiten die Schwester meiner Frau bei der Rückkehr, sie hätte sich alleine nicht getraut“, sagt er. „Meine 13-jährige Tochter ist nicht mitgekommen, weil sie Angst hatte.“ Aber die Region müsse zurück zur Normalität finden.

Die Stadt Sderot will am 3. März alle Schulen wieder öffnen. Zeitgleich erhöht die israelische Regierung den Druck. Die Finanzhilfen für Rückkehrer sollen laut Medienberichten sinken, je später sich die Bewohner entscheiden, in ihre Häuser zurückzuziehen. Noch immer leben mehr als 130.000 Israelis aus der Umgebung des Gazastreifens und von der libanesischen Grenze an anderen Orten im Land.

Die Menschen auf der Straße in Sderot hadern noch mit der neuen Realität. Am 7. Oktober drangen bewaffnete Hamas-Terroristen neben mehr als 20 anderen Gemeinden auch nach Sderot ein und töteten rund 50 Zivilisten und 20 Sicherheitskräfte. In der Bäckerei hält eine Mutter mit hellblauem Kopftuch der religiösen Jüdinnen nervös ihre Tochter an der Hand: „Wir sind heute nur zu Besuch und haben noch nicht entschieden, ob wir zurückkommen.“ Die junge Verkäuferin hingegen ist bereits seit einem Monat zurück und freut sich, dass seit dem Wochenende das Leben zurückkehrt.

Die Stadt wurde 1951 gegründet. Die Bewohner des arabischen Dorfes ­Nadschd, die zuvor hier gelebt hatten, waren 1948 im Krieg nach der Staatsgründung Israels in den benachbarten Gazastreifen vertrieben worden. Sderot war zunächst ein Flüchtlingslager für vertriebene Juden aus kurdischen Gebieten und dem Iran sowie später aus Marokko. Auch damals ging es um Sicherheit: Die Stadt gehörte wie die meisten Dörfer im Umland des Gazastreifens zu einem Gürtel strategischer Ortschaften, um die Grenzen des jungen israelischen Staates zu sichern.

Daran wollen führende israelische Politiker wie Finanzminister Bezalel Smotrich oder der Minister für Natio­nale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, anknüpfen und es nicht bei einer Rückkehr ins Umland von Gaza belassen – entgegen allen Warnungen auch von Israels engstem Verbündeten, den USA. Ende Januar nahm rund ein Drittel des Kabinetts, einschließlich Mitgliedern von Netanjahus Partei Likud, an einer Konferenz zur Wiederbesiedlung des Gazastreifens teil. Die Organisatoren hatten sie „Siedlungen bringen Sicherheit“ genannt.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu betonte zwar mehrfach, sein Land habe „nicht die Absicht, den Gazastreifen dauerhaft zu besetzen oder die Zivilbevölkerung zu vertreiben“. ­Dennoch gelang es in dieser Woche Dutzenden Aktivisten der Siedlerbewegung, die Grenze zum Gazastreifen zu durchbrechen und einen halben Kilometer in den Küstenstreifen vorzudringen, bevor sie von der Armee gestoppt und zurückgebracht werden.

50 Kilometer südlich an der Grenze zu Ägypten liegt die Landwirtschaftssiedlung Bnei Netzarim, gebaut von 2005 aus dem Gazastreifen geräumten Siedlern. Die Bewohner haben den staubigen Boden der Negevwüste mit Bewässerungsanlagen und thailändischen Gastarbeitern in Felder verwandelt und leben von der Landwirtschaft.

Doron Stamker

„Wenn dort die Bomben einschlagen, wackeln hier die Häuser“

16 Kilometer entfernt in Rafah drängen sich zwei Drittel der rund 2,3 ­Millionen Einwohner des Gaza­streifens zusammen. Im Februar teilten das Welternährungsprogramm und Unicef mit, dass in Unterkünften und Gesundheitszentren im Norden des Küstenstreifens eines von sechs Kindern unter zwei Jahren akut mangel­ernährt sei.

Seit Jahresbeginn kamen teils wochenlang keine Hilfslieferungen in den Norden, wo noch immer Hunderttausende Bewohner ausharren. Nach dem tödlichen Vorfall am Donnerstag wird Israel scharf kritisiert. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach von einem „Blutbad“ und sagte, es sei ein schwerer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, Menschen Nahrungsmittel vorzuenthalten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kritisierte, dass „Zivilisten von israelischen Soldaten ins Visier genommen wurden“.

Die UN-Hilfsorganisationen hatten seit Wochen gewarnt, dass die Verzweiflung der Menschen zu gewaltsamen Angriffen auf ihre Hilfskonvois führe und dringend weitere Grenzübergänge in den Norden des Küstenstreifens geöffnet werden müssten. Die Menge der Hilfslieferungen habe sich im Februar im Vergleich zum Vormonat halbiert. Im Schnitt seien in diesem Monat pro Tag nur 98 Laster mit Hilfslieferungen in den Küsten­streifen gelangt.

Ein Mann mit Waffe steht vor einem Haus

Sicherheitsmann Doron Stamker im Kibbuz Nir Yitzhak Foto: Felix Wellisch

Im Dorfsupermarkt von Bnei Net­zarim sind die Regale gefüllt. Auf dem Spielplatz des Dorfes sitzen drei Frauen mit ihren Kindern. Tehila ist 36 Jahre alt und hat vor zwei Wochen ihr siebtes Kind bekommen, ihr Mann ist im Reservedienst an der Grenze zum Libanon. „Wir sind zwei Wochen nach dem 7. Oktober zurückgekommen“, sagt sie. Sie habe für umgerechnet 250 Euro Spielzeug gekauft, sich mit den Kindern zu Hause versteckt, gespielt und Musik gehört, als noch fast niemand aus dem Dorf zurückgekehrt war. Heute seien fast alle der 140 Familien wieder zurück. Wegen der Armeestellungen um das Dorf und des Wachteams der Ortschaft fühle sie sich sicher.

Aufgewachsen sind die Frauen in Kerem Atzmona, einem bis zu seiner Räumung selbst nach israelischem Recht illegalen Außenposten der national-religiösen Siedlerbewegung in Gaza. Er lag neben der palästinensischen Stadt Chan Junis, in der in diesen Tagen israelische Soldaten operieren. „Das israelische Volk muss jetzt verstehen, dass das Land dort uns gehört“, sagt Hodaya. „Es kann keinen Sieg geben, ohne dass wir nach Gaza zurückkehren. Und wir sind bereit.“ Die Palästinenser könnten „auch in die Türkei oder nach Ägypten oder in ein anderes islamisches Land gehen“, sagt sie.

Die Zufahrt zum Grenzübergang Kerem Schalom auf halbem Weg zwischen Bnei Netzarim und Rafah ist durch einen Militärcheckpoint versperrt. Dennoch gelingt es Mitgliedern religiös-nationalistischer Gruppen regelmäßig, in die Nähe des Übergangs vorzudringen und Hilfslieferungen zu blockieren. Die Aktivisten gehören zum rechten Rand der Gesellschaft, doch ihre Forderung, die humanitäre Hilfe einzustellen, bis die Geiseln freigelassen wurden, tragen laut einer Umfrage des Israel Democracy Institute 68 Prozent der jüdischen Israelis mit.

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Wie wirkungsvoll die Blockaden sind, ist schwer abzuschätzen. Grund für das Ausbleiben der Hilfslieferungen sind laut der UNO aber vor allem fehlende Grenzübergänge, militärische Kampfhandlungen und der Zusammenbruch von Recht und Ordnung in Gaza. Menschenrechtsorganisationen werfen Israel vor, es habe die Anordnung des Internationalen Gerichtshofs IGH, zur Verhinderung eines möglichen Völkermordes mehr humanitäre Hilfe zuzulassen, bisher nicht erfüllt.

Acht Kilometer vom Grenzübergang Kerem Schalom entfernt bewacht Doron Stamker das Tor zur Kibbuzsiedlung Nir Jitzchak. „Bisher sind nur einige Arbeiter zurückgekommen, um sich um die 600 Kühe und die Hühner zu kümmern“, sagt der 50-Jährige. Um seine Schultern hängt ein Sturmgewehr, in der Wand des Wachhauses sind Einschusslöcher zu sehen. Im Fenster liegen die Reste einer Rakete aus Gaza, verformt wie Teile einer abstrakten Metallskulptur. „Wenn dort die Bomben einschlagen, dann wackeln hier die Häuser. Wir sollten nicht zurückkommen, solange drüben gekämpft wird“, sagt das Mitglied des Kibbuz-Sicherheitsteams.

Stamker krault seine weiße Hündin Esa hinter den Ohren. Fünf seiner neun Kollegen des Sicherheitsteams seien am 7. Oktober getötet worden. Sechs Menschen wurden verschleppt, noch immer sei ein Bewohner des Kibbuz als Geisel in Gaza. „Dieser Kibbuz wird nicht mehr derselbe sein und es wird nicht friedlich werden“, sagt Stamker resigniert und scherzt: „Ich glaube, schon Moses hat den Fehler gemacht. Er hätte uns nach Kanada bringen sollen statt nach Kanaan.“ Er verstehe, dass auch auf der anderen Seite Menschen Frieden wollten, doch die Hamas wolle das nicht. Ein Palästinenserstaat könne die Situation vielleicht verbessern. „Sollen sie dort sein und wir hier“, sagt er. Nur in einem ist er sich sicher: „Eine Wiederbesiedlung ist nicht die Lösung.“



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