Sein Name steht auf keinem Stimmzettel, wenn am Sonntag 61,4 Millionen Türkinnen und Türken aufgerufen sind, 1393 Bürgermeister und über 22.000 Gemeinderäte zu wählen. Aber er dominiert den Wahlkampf: Staatschef Recep Tayyip Erdogan. Seit über 20 Jahren bestimmt er die Geschicke des Landes. Dass sich der 70-Jährige jetzt so ins Zeug legt, hat einen Grund: Es geht am Sonntag um seine politische Zukunft an der Staatsspitze.

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Bei der vorangegangenen Kommunalwahl vom März 2019 konnte die Opposition auftrumpfen: Sie eroberte die Rathäuser in elf Großstädten, darunter in den Millionenstädten Istanbul, Izmir, Ankara, Antalya und Adana. Für Präsident Erdogan war besonders der Verlust von Istanbul eine persönliche Schmach, denn in der Bosporusmetropole hatte er Mitte der 1990er-Jahre seine Karriere als Oberbürgermeister begonnen.

„Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“

Istanbul beherbergt mit 16 Millionen Einwohnern ein Fünftel der türkischen Bevölkerung. Hier werden 30 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“, hatte Erdogan schon in der Vergangenheit immer wieder erklärt. Der Satz ist inzwischen ein geflügeltes Wort. Deshalb setzt er jetzt alles daran, Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu von der bürgerlich-sozialdemokratischen CHP aus dem Amt zu vertreiben und das Rathaus am Istanbuler Atatürk Boulevard für seine islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei (AKP) zurückzuerobern.

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Der 52-jährige Imamoglu gilt als einer der talentiertesten Politiker des Landes. In Istanbul hat er sich in den vergangenen Jahren ein starkes Netzwerk geknüpft. Er wirkt kompetent und ist populär. Gelingt es ihm, sein Rathaus zu verteidigen, könnte das die Weihe zu Höherem sein. Dann dürfte Imamoglu wohl Anspruch auf den Vorsitz der CHP anmelden und wäre Kandidat der größten Oppositionspartei für die nächste Präsidentenwahl, die spätestens im Juni 2028 stattfinden muss. Imamoglu gilt aus heutiger Sicht als einziger Herausforderer, der Erdogan auf der nationalen Bühne wirklich gefährlich werden könnte.

Ekrem Imamoglu wird in Istanbul mit einem Bus an einer Menschenmenge vorbeigefahren und grüßt seine Anhänger.

Ekrem Imamoglu wird in Istanbul mit einem Bus an einer Menschenmenge vorbeigefahren und grüßt seine Anhänger.

Ihn zu entthronen, das soll am Sonntag Murat Kurum schaffen, bis zum vergangenen Jahr Minister für Umwelt, Stadtplanung und Klimawandel in Erdogans Kabinett. Der 47-jährige Bauingenieur wirkt bei seinen Kundgebungen allerdings nicht besonders mitreißend. Deshalb muss Erdogan selbst ran. Der Präsident gibt in der Schlussphase des Wahlkampfes alles: „Ich arbeite nonstop, ich mache durch ohne Pause“, rief er seinen Anhängern bei einer Kundgebung in Istanbul zu. „Denn für mich ist dies das Finale, es ist mein letzter Wahlkampf, wie es das Gesetz bestimmt“, so Erdogan. Das war eine Anspielung darauf, dass er nach der Verfassung am Ende seiner laufenden Amtszeit nicht erneut für das höchste Staatsamt kandidieren darf. Schon vor der Präsidentenwahl vom Juni 2023 hatte Erdogan erklärt, er trete zum letzten Mal an und werde nach dem Ende der fünfjährigen Legislatur „die heilige Fahne an die Jugend weitergeben“.

Erdogan springt im Wahlkampf ein, obwohl er gar nicht zur Wahl steht.

Erdogan springt im Wahlkampf ein, obwohl er gar nicht zur Wahl steht.

Bleibt Erdogan bei seiner Ankündigung?

Aber viele Beobachter bezweifeln, dass Erdogan wirklich vorhat, sich aufs Altenteil zurückzuziehen. Gesetze kann man ändern, auch die Verfassung ist nicht in Stein gemeißelt. Gelingt es dem AKP-Kandidaten Kurum, das Istanbuler Rathaus zu erobern, wäre das nicht sein, sondern Erdogans Sieg. Er könnte einen solchen Erfolg in der größten Stadt des Landes als Mandat interpretieren, erneut für das Präsidentenamt zu kandidieren. Möglich wäre das mit einer Verfassungsänderung oder wenn sich das Parlament vorzeitig auflöst.

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Die Kommunalwahlen finden vor dem Hintergrund einer schweren Wirtschaftskrise statt. Die Inflation, die im vergangenen Monat auf 67 Prozent stieg, zehrt an den Einkommen der Menschen. Selbst Grundnahrungsmittel werden für viele unerschwinglich, ganz zu schweigen von Mieten und Energiekosten. Zwei Drittel der jungen Türkinnen und Türken im Alter von 18 bis 30 Jahren klagen über finanzielle Probleme, ergab jetzt eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Konda. Regierungsunabhängige Ökonomen und ausländische Analysten machen vor allem Erdogans jahrelange Einmischung in die Geldpolitik für die Misere verantwortlich: Mit Niedrigzinsen und billigen Krediten versuchte er, die Wirtschaft anzukurbeln. Das führte zu einem rapiden Wertverlust der Lira und horrender Inflation.

Aber schon bei der Präsidentenwahl vor neun Monaten zeigte sich, dass die Wirtschaftsmisere Erdogan erstaunlich wenig anhaben kann. Offenbar trauen es viele Menschen ihm am ehesten zu, die Krise zu meistern – obwohl oder gerade weil er in den vergangenen Jahren das Land immer autoritärer führt.

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Auf Präsidentenbeleidigung stehen bis zu viereinhalb Jahre Gefängnis

Erdogan regiert mit eiserner Hand. Kritiker lässt er unnachsichtig verfolgen. Selbst milde Formen des Protests können zu Strafverfolgung führen. Das zeigte sich auch in diesem Wahlkampf. In der Stadt Isparta nahm die Polizei am vergangenen Mittwoch den Rentner Y. B. fest, der zu einer Kundgebung der Regierungspartei AKP in einem T-Shirt mit der Aufschrift „Keine Gerechtigkeit für Rentner, keine Stimme für Dich, Chef!“ erschienen war. Gegen den Mann wurde ein Ermittlungsverfahren wegen „Präsidentenbeleidigung“ eingeleitet. Darauf stehen bis zu viereinhalb Jahre Gefängnis.

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Der Oppositionspolitiker Hikmet Yalim Halci von der CHP kommentierte: „Erst haben sie die Justiz in der Türkei demontiert, jetzt können sie nicht einmal das Wort ‚Gerechtigkeit‘ ertragen.“ Aber unter Erdogans Anhängern sind Demokratiedefizite und Menschenrechtsverletzungen, die auch in der EU zunehmend für Kritik sorgen, überhaupt kein Thema. Die Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Konda ergab, dass es unter den 18- bis 30-jährigen Türkinnen und Türken 54 Prozent für „fair“ halten, wenn Oppositionspolitiker wie der frühere Chef der Kurdenpartei HDP oder Bürgerrechtler wie Osman Kavala im Gefängnis sitzen. Das zeigt, wie stark Erdogan in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Mentalität im Land manipuliert hat.

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Die Opposition ist zerstritten

Nun geht er in die entscheidende Schlacht um Istanbul. Die Umfragen geben kein klares Bild, wer sie gewinnen wird. In einigen Erhebungen liegt Amtsinhaber Imamoglu knapp vorn, in anderen der Herausforderer Kurum. Er könnte davon profitieren, dass die Opposition zerstritten ist. Bei den Wahlen von 2019 unterstützten mehrere Oppositionsparteien in den großen Städten gemeinsame Kandidaten. Seinen Sieg verdankte Imamoglu seinerzeit nicht zuletzt den Stimmen der kurdischen Wählerinnen und Wähler.

Aber das Oppositionsbündnis zerbrach, nachdem es die Parlaments- und Präsidentenwahl vom vergangenen Jahr verloren hatte. Diesmal tritt die prokurdische Partei DEM in Istanbul und anderen Großstädten mit eigenen Bewerbern an. Die rechtsgerichtete IYI-Partei schickt ebenfalls Kandidaten ins Rennen. Auch die größte Oppositionspartei CHP, für die Imamoglu in die Wahl geht, ist seit der Niederlage vom vergangenen Jahr innerlich zerrissen. Das könnte Erdogan helfen, am Sonntag Istanbul zurückzuerobern – und so seine Macht weiter zu festigen.



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