Im Jahr 2012 wurden Tierschützer auf den Kanadier Luka Magnotta aufmerksam, der anonym mehrere Videos ins Netz gestellt, in denen er Kätzchen erst quälte und dann zu Tode brachte. Dabei sollte es nicht bleiben, ein Jahr später tötete er vor laufender Kamera einen Menschen und stellte die Aufnahmen ins Netz, bevor er schließlich verhaftet werden konnte.
Auf einen verstümmelten Leichnam und Foltervideos stoßen auch die Münchner Ermittler im “Tatort: Schau mich an”, den man nicht so schnell vergessen wird. Denn Autor und Regisseur Christoph Stark strapaziert die Nerven der Zuschauerinnen und Zuschauer mit einem äußerst spannenden Krimi und überraschenden Wendungen.
AZ: Herr Stark, der 95. Fall ist einer der härtesten für die Münchner Ermittler. Haben Sie direkt an dieses Team gedacht, als Sie die Geschichte um den realen Fall Luka Magnotta bearbeitet haben?
CHRISTOPH STARK: Nein, der Vorschlag kam vom betreuenden BR-Redakteur Cornelius Conrad, er hat mir den Fall angetragen. Mein erster Satz war: “Wie kann man diese Geschichte so erzählen, dass auch 12-Jährige das ansehen können, ohne Albträume zu bekommen?” Ich habe mich auch lange sehr schwer getan mit dem Stoff, weil mir auch klar war, in welche Abgründe man steigen muss, um so einer Geschichte gerecht zu werden. Das ist für einen selber als Autor und Regisseur auch gar nicht so leicht. Ich habe dann mit einem Profiler zusammengearbeitet.
Regisseur und Autor Christoph Stark über den München-Tatort: “Man muss eine Distanz halten”
Die Recherche war eine psychische Belastung?
Ich finde schon. Auch der Profiler hat mich immer gefragt: “Wie ist denn das bei Dir? Wozu wärst Du fähig?” Wir hatten erst eine andere Konstruktion gewählt, die das Geschehen retrospektiv erzählt hätte, mit mehr Distanz, aber das hat nicht funktioniert. Also musste ich doch richtig rein in den Fall.
Das Irritierende ist, dass es einen Markt für diese Gewaltvideos gibt. Wie erklären Sie sich das?
Man muss sich immer wieder fragen, was denn für andere die Faszination solch grausamer Bilder ist. Aber wahrscheinlich hat es doch auch damit zu tun, dass man unbewusst das eigene Wesen auslotet und dann Gott sei Dank merkt, wie weit man doch von so etwas entfernt ist, auch wenn man selber Abgründe in sich trägt.
Sie gehen mit diesem “Tatort” schon an die Grenze dessen, was man im Fernsehen um diese Uhrzeit üblicherweise zu sehen bekommt. Wie haben Sie diese Grenze für sich gesetzt?
Man muss den Zuschauer bei diesem Fall ein Stück weit in diese Welt hineinziehen und gleichzeitig natürlich eine Distanz halten. Man merkt schon am Set, dass man gewisse Szenen weder drehen noch sehen will. Wir haben dann sehr viel Zeit im Schneideraum verbracht und auch sehr eng mit den BR-Kolleginnen vom Jugendschutz zusammengearbeitet. Man muss aber auch sagen, dass mein Buch eine eindeutige Distanz zieht, eine klare Haltung hat. Ich denke nicht, dass wir an irgendeinem Punkt in die Falle geraten sind, dass man uns Voyeurismus vorwerfen könnte oder gar Gewaltverherrlichung. Ich finde es im Gegenteil befremdlich und viel schlimmer, wie achtlos sonst mit Gewalt in Krimis umgegangen wird, da bin ich manchmal wirklich schockiert. Mir war bei unserem Film wichtig zu zeigen, was es mit einem Menschen macht, wenn man über die Schwelle geht und einen anderen Menschen tötet: Es tötet auch den Täter. Keiner kommt aus so einer Tat psychisch unbeschadet raus.
Was war denn die besondere Herausforderung für Sie als Regisseur beim Dreh?
Man muss aufpassen, dass es keine Betroffenheitskiste wird, dass die Kommissare nicht jedes Video kommentieren, denn das tun echte Polizisten auch nicht. Die schweigen eher in so einem Fall, wie mir von Polizisten bestätigt wurde. Die schweigenden Gesichter von Batic und Leitmayr beim Betrachten von Videos bieten so die Projektionsfläche für die Emotionen der Zuschauer.
Münchner Tatort mit Udo Wachtveitl und Miroslav Nemec: “Die können schon anstrengend sein”
Udo Wachtveitl und Miroslav Nemec sind bei Autoren bekannt dafür, beim Drehbuch mitzuschreiben.
Ja, die können schon anstrengend sein, die Herren (lacht) – aber immer auf Basis einer fruchtbaren, kollegialen Zusammenarbeit. Und es ist doch klar, dass sie ihre Figuren, die sie so lange kennen, beschützen wollen. Auf der anderen Seite muss man aufpassen, dass sich keine Gewohnheiten einschleichen. Ich habe viele Vorschläge angenommen, aber manchmal auch gekämpft und auf meiner Position beharrt.
Es gibt relativ selten Interaktion der verschiedenen “Tatort”-Teams, bei Ihnen gibt es gleich einen Videocall nach Wien zu Oberstleutnant Moritz Eisner. Wie kamen Sie auf die Idee?
Ich bin mit Harald Krassnitzer befreundet, seit wir vor über 20 Jahren mal einen sehr schönen Film in Italien gedreht haben. Ich habe ihn gefragt, ob er Lust habe mitzumachen und er war sofort dabei. Seltsamerweise macht dieser kurze Anruf atmosphärisch eine Menge aus. Das gibt dem Fall auf einmal eine Größe und Wahrhaftigkeit weit über den Münchner Fall hinaus.
Leitmayr und Batic haben nur noch fünf Fälle vor sich. Hätten Sie Lust, auf der Zielgeraden noch einmal mitzumachen, oder sind die Bücher bis einschließlich des Finales, dem 100. Fall, alle schon geschrieben?
Es kann sein, dass es noch einmal klappt. Die Drehbücher allerdings sind, so glaube ich, alle schon in Arbeit. Ich bin eigentlich über einen anderen Fall zum Münchner “Tatort” gekommen. Ich hatte ein Treatment geschrieben, wo die beiden bei Schnee und Eis in die Berge gejagt werden. Aber bei aller Liebe zu ihren Charakteren wollten sie doch nicht fünf Wochen lang bei Schnee und Eis drehen. Und das kann ich auch verstehen.
Sie haben viele “Tatorte” für verschiedene Teams gedreht, ist der Sonntagabend bei Ihnen auch privat für den “Tatort” reserviert?
Ganz ehrlich schaue ich eher wenige Krimis und oft auch nur einen Teil, um zu sehen, was die Kollegen machen. Ich gehe dann lieber ins Kino und schaue mir gute Arthouse-Filme an. Aber bevor ich für ein Team drehe, schaue ich selbstverständlich die zurückliegenden zwei, drei Fälle.
ARD, Sonntag, 20.15 Uhr