Göttingen. Celina und Nico stehen auf einem Balkon im 16. Stock des Iduna-Zentrums in Göttingen und rauchen Heroin. „Hätte ich eine Therapie bekommen“, ist Celina sicher, „wäre mein Leben anders verlaufen.“ Aber Therapieplätze für Jugendliche sind in Göttingen wie auch andernorts kaum zu bekommen.
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Celina und Nico heißen nicht wirklich so. Aber sie wollen ihre Geschichte erzählen. Die beiden teilen sich nicht nur ihre Wohnung, sondern auch verschiedene Diagnosen. Depressionen, Traumata und Substanzabhängigkeit prägen ihre Leben. Nico ist inzwischen 23. Trauma und Depressionen haben ihn schon in seiner Kindheit begleitet, später kamen Psychosen dazu. Mit 16 konnte er nicht mehr zu Hause wohnen, sondern lebte bei Freunden. Nachdem er mit 17 vergeblich eine ambulante Psychotherapie gesucht hatte, versuchte er zum ersten Mal, sich umzubringen. Ein Krankenwagen brachte ihn in die Universitätsmedizin Göttingen (UMG).
Bedarf an Psychotherapie hat stark zugenommen
Schon vor der Pandemie begannen die Zahlen psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher deutlich zu steigen, wie das „Göttinger Tageblatt“ berichtet. Mit den Lockdowns wurde alles noch schlimmer. Besonders die Zahl junger Menschen, die an Depressionen, Ängsten, Essstörungen und Zwangserkrankungen leiden, nahm zu. „Das kann ich von unserer Klinik aus bestätigen“, sagt Bastian Claaßen, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Asklepios Fachklinik Tiefenbrunn bei Rosdorf: „Corona hatte definitiv Auswirkungen auf die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. In vielen Biografien von Patienten spielt die Pandemie eine besondere Rolle. Dabei ist sie meist nicht der einzige Faktor, aber ein bedeutender Faktor, der bestimmte Problematiken auch verstärkt hat.“
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Auch auf Celina trifft das zu. „Meine Depressionen begannen mit 14“, berichtet die heute 18‑Jährige. Das war 2020, ein paar Monate nach Beginn des ersten Lockdowns. Zu der Einsamkeit kamen Todesfälle in der Familie, Unverständnis für ihre beginnende Depression und traumatische Erlebnisse. Mit 15 nahm sie nicht mehr am Homeschooling teil, begann, Drogen zu konsumieren, und musste ihre alte Schule verlassen.
Nachdem sie mehrfach Suizidwünsche geäußert hatte, suchten sie und ihre Mutter nach Hilfe. Diese Suche sollte ein langer Weg werden. Die häufige Ablehnung und Einsamkeit während der Pandemie haben sie nachhaltig geprägt: „Es hat sich angefühlt, als würde jeder nur sagen wollen: Bleib gesund und stirb allein.“
Berechnung von Kassensitzen beruht auf Daten von 1999
Das Problem des Mangels an Therapieplätzen für Jugendliche ist bekannt. „Die vertragsärztliche Bedarfsplanung für ambulante Psychotherapiesitze wurde zuletzt 1999 durchgeführt. Der Bedarf an Psychotherapieplätzen ist seitdem stetig gestiegen, bedingt durch diverse Faktoren“, heißt es in einem Positionspapier der Psychologie-Fachschaften-Konferenz (PsyFaKo) von 2022. Noah Machunze, AG‑Koordinator der PsyFaKo, hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt. „Eine grundlegende Bedarfsplanung hat es in den letzten 25 Jahren nicht gegeben“, sagt er.
Lediglich regional wurden Kassensitze an steigende oder sinkende Einwohnerzahlen angepasst. „2017 wurden mit der Strukturreform zwar auch einige neue Sitze geschaffen, immer mal wieder“, sagt Machunze, „aber die stehen zahlenmäßig in keinem Verhältnis zu dem, was Schätzungen und Gutachten sagen, wie viele Sitze eigentlich nötig wären.“
Lange Wartezeiten – außer bei Selbstmord
Anfang 2021 bemühte sich Celinas Mutter weiterhin um eine Behandlung für ihre 15‑jährige Tochter: „Ich kam auf Wartelisten“, berichtet Celina: „In Tiefenbrunn betrug die Wartezeit damals ein Jahr. Auch andere Psychiatrien in der Umgebung sagten nur, dass sie gerade überfüllt seien. Besonders wegen der Pandemie. Ambulant stand auch keine Hilfe in Aussicht.“
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„Keine Hilfe in Aussicht“: Celina und Nico suchen vergeblich Hilfe.
Quelle: Rahel Kaemling
Wie Celina ging es auch Lea (18) – ebenfalls nicht ihr echter Name. Leas Mutter sagt: „Es war schwer, einen Termin bei einem Psychiater zu bekommen, da nirgendwo Plätze frei waren.“ Nachdem sie nach langem Suchen und Warten endlich einen Termin bekommen hatten, schickte der Psychiater sie weiter an die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Göttingen, wo sie stationär aufgenommen werden sollte. Nach einem Gespräch in der Institutsambulanz wurde Lea, ebenso wie Celina, auf die Warteliste gesetzt.
Die Institutsambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) an der UMG beziffert die Wartezeit für Betroffene je nach Bereich aktuell auf drei bis sechs Monate. Ausnahmen würden bei „akuten Eigen- oder Fremdgefährdungen“ gemacht. Diese Einschätzung ist allerdings subjektiv. Ein Suizidversuch beispielsweise könnte zu einer sofortigen Aufnahme auf einer Akutstation führen. Aber es kommt längst nicht immer dazu.
Lea stand sechs Monate auf der Warteliste der KJP. Das war 2022, da war sie gerade 16 und ging schon länger nicht mehr zur Schule. Sie hatte ebenfalls während der Pandemie Depressionen und eine Essstörung entwickelt. Zwischenzeitlich wog sie nur noch 41 Kilogramm bei einer Größe von 1,73 Metern. Damit war sie nicht mehr nur stark untergewichtig. Ihre Erkrankung nahm lebensbedrohliche Ausmaße an. Wegen starker suizidaler Neigungen kam sie kurzzeitig auf eine geschlossene Station. Sie nahm zwar wieder an Gewicht zu, aber emotional besserte sich ihre Situation kaum.
Kokain und Speed auf der Schultoilette
In Nicos Fall gab es nur einmal eine unverzügliche Einweisung, obwohl er mehrere Suizidversuche mit Einsatz von Rettungskräften und Polizei hinter sich hatte. Ein Polizist, erinnert er sich, habe kurz nach einem Suizidversuch einmal zu ihm gesagt: „Gehen Sie das nächste Mal in den Wald und nehmen Sie Ihren Personalausweis mit.“ Da war Nico immer noch minderjährig.
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In den folgenden Jahren verhielt er sich weiterhin stark suizidal. Neben anderen Drogen konsumierte er besonders Crystal Meth und war nach eigenen Angaben bis zu sieben Tage durchgehend wach: „Jedes Mal, wenn ich einschlief, hatte ich Albträume.“ „Albtraum“, das bedeutet bei einer starken Traumatisierung mehr als nachts aufschrecken und nach ein paar Minuten wieder einschlafen.
Celina nahm ebenfalls weiter Drogen im Alltag, um ihre psychischen Probleme zu bewältigen. Zeitweise konsumierte sie stündlich auf der Schultoilette Kokain oder Speed. Ein geläufiges Verhaltensmuster, weiß Asklepios-Facharzt Claaßen: „Tatsächlich haben die Jugendlichen hier oft mehr als eine Diagnose, das ist sogar eher häufig als selten. Auch Substanzmissbrauch gehört dazu.“
Deshalb bemerkt man auch im Drogenberatungszentrum Göttingen (Drobz) seit 2020 den Anstieg der psychischen Probleme bei Jugendlichen. „Bei einigen Jugendlichen liegt tatsächlich eine psychische Störung vor. Zum Beispiel Depression, Ängste, Trauma, Schizophrenie und Weiteres“, teilt das Drobz mit.
Antidepressiva und Neuroleptika statt Therapie
Bei Nico führten Drogenkonsum und Schlafentzug zunehmend zu Psychosen. Vom Arzt bekam er Antipsychotika mit starken Nebenwirkungen verschrieben, etwa Haloperidol. Was das mit einem macht, beschreibt er so: „Ich war die ganze Zeit müde, konnte nicht mehr denken, war wie ein Roboter.“ Als Antidepressivum bekam er über einen längeren Zeitraum Escitalopram. Das Medikament, sagt er, habe ihm zwar nicht geholfen, dafür aber deutliche Entzugssymptome verursacht, als er es wieder absetzte.
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Celina bekam mit der Zeit ebenfalls Medikamente, aber keine Therapie: „Ambulant bekam ich erst nach elf Monaten einen Termin bei einer Psychologin. Das war Anfang 2022. Dort hatte ich insgesamt nur drei Termine in Abständen von einigen Wochen. Dann hat mir die Psychologin gesagt, dass ihr Terminkalender zu voll sei und ich mir eine andere Einrichtung suchen solle. Ich bekam lediglich ein Rezept für Fluoxetin.“ Über sechs Monate nahm die damals 15‑Jährige das Medikament ein – ohne Besserung.
Psychopharmaka
Quelle: Rahel Kaemling
Erst im Sommer 2022 bekam Celina eine Chance auf eine Therapie bei der Arbeitsgemeinschaft für Verhaltensmodifikation (AVM) in Göttingen. Doch als herauskam, dass sie inzwischen täglich Cannabis konsumierte, brach die Psychotherapeutin die Behandlung wieder ab. „Mir wurde gesagt: Die Krankenkasse zahlt deine Behandlung nicht, solange du konsumierst. So als wäre es Verschwendung, in mich zu investieren. Kiffen hat mir damals mehr geholfen als Medikamente. Deshalb blieb ich dabei.“
Die Ablehnung entsprach aber den üblichen Regeln: „In einer Psychotherapie geht es vorwiegend um die Arbeit mit den Gefühlen. Da ist eine Beeinflussung durch Rauschmittel nicht zielführend“, erklärt die Göttinger Drogenberatung. Indes: Auch Psychopharmaka können Einfluss auf die Gefühle der Patienten haben. Eine Ausweitung der ambulanten und stationären Behandlungsplätze wäre auch aus Sicht der Drogenberatung wünschenswert.
Krankenkassen verweigern Kostenerstattungsanträge
Warum gibt es dann nicht mehr Therapieplätze? „Wir haben genug Personal“, stellt PsyFaKo-Koordinator Machunze klar. Das Problem sei ein anderes: „Die Zahl der Kassensitze kann eben nicht gesteigert werden.“ Das junge Personal hat dann die Möglichkeit, ohne eigenen Kassensitz privat abzurechnen. „Eigentlich gibt es dann noch die Regelung: Wenn man aufgrund langer Wartezeiten über einen zumutbaren Zeitraum hinaus keinen Therapieplatz bei einer ambulanten Therapie gefunden hat, kann man sich die Kosten bei einem privaten Psychotherapeuten ohne Kassensitz von der Krankenkasse erstatten lassen. Das ist gesetzlich so geregelt.“
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In den vergangenen Jahren aber umgingen die Krankenkassen diese Regelung immer wieder, beklagt Machunze. Auf Kostenerstattungsanträge gebe es dann als Reaktion: „Nein, wir machen das nicht mehr“, „Wir dürfen das nicht mehr“ oder „Wir sind nicht mehr zuständig“. Für Machunze klare Falschaussagen: „Da das Recht auf Kostenerstattung in den letzten Jahren immer systematischer verwehrt wird, ist das Problem der zu wenigen Kassensitze noch mal gestiegen.“
Im Herbst 2023 sollte ein neuer Gesetzentwurf kommen, der mehr Therapieplätze und kürzere Wartezeiten verspricht. Ein guter Ansatz, meint Machunze: „Die Hebelwirkung geht gerade über die Politik, weil die Bundesregierung ja in ihrem Koalitionsvertrag zugesichert hat, die Bedarfsplanung zu reformieren.“ Dass aber so viele Plätze geschaffen werden, wie wirklich nötig wären, bezweifelt der Experte. Das gebe die Haushaltslage wohl nicht her.
„Irgendwann bricht alles zusammen“
Lea ist inzwischen in einer Fachklinik für Essstörungen. Dort darf sie keine Spaziergänge machen, um nicht zu viele Kalorien zu verlieren. Über die Zeit, die sie zu Hause allein verbringen musste, sagt ihre Mutter: „Ich hatte das Gefühl, therapeutisch alleingelassen zu werden. Die Behandlung in der UMG war zwar gut, aber zu kurz.“ Sie vermutet, dass die wenigen Therapieplätze auch ein Grund für Leas frühzeitige Entlassung waren.
Auf Celinas jüngstem Arztbrief von 2023 sind die Diagnosen aufgelistet: „PTBS, schwere depressive Episode, psychische und Verhaltensstörung durch: Kokain, Opioide, Sedativa und Hypnotica, Cannabinoide und Stimulanzien.“ Körperlich abhängig sei die 18‑Jährige nur noch von Benzodiazepinen.
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Vor einigen Monaten habe sie Clonazepam zur Entgiftungsbehandlung bekommen. „Es hat mir zuerst gut geholfen“, sagt Celina dazu, „aber der körperliche Entzug ist gefährlich. Man kann dabei einen Krampfanfall bekommen. Ich hab mehrmals versucht, das Medikament abzusetzen, aber dann konnte ich nächtelang nicht schlafen, hatte Krämpfe, Zittern, Muskelschmerzen, Panikattacken, Übelkeit und Halluzinationen.“
Nicos letzter Suizidversuch ist gerade einmal zwei Monate her. „Er hatte sich in einer Toilette eingeschlossen und wollte sich mit einer Überdosis Heroin umbringen“, erzählt Celina. Sie habe daraufhin eine Panikattacke bekommen und im Flur laut um Hilfe gerufen. Keiner der Nachbarn habe geöffnet, und auch ein Mann auf dem Flur habe sie ignoriert. „Unser Leben“, sagt Celina, „fühlt sich an wie ein Kartenhaus, in dem wir eingesperrt sind, und keiner macht die Tür auf. Irgendwann bricht halt alles über uns zusammen.“