Landkreise und ihr Klimaschutz: Karte zeigt, wie weit Deutschland mit dem „grünen Jobwunder“ ist
Dienstag, 12.03.2024, 19:25
Neue Jobs, wachsende Wirtschaft – und Klimaschutz? Das schaffen bislang nur wenige Regionen in Deutschland, lautet das Ergebnis einer neuen Studie. Ein Überblick, wie die Landkreise abschneiden – und was die grüne Transformation so schwer macht.
Wenn es um Klimapolitik geht, denkt Olaf Scholz an Arbeitsplätze. Vor rund einem Jahr sprach der Bundeskanzler bei der Kabinettsklausur in Meseberg vom „grünen Wirtschaftswunder“. Im Wahlkampf 2021 hat der selbst ernannte „Klimakanzler“ seine Vision oft erklärt. Bis 2045 soll Deutschland klimaneutral werden und gleichzeitig der Wohlstand im Land weiter wachsen.
Für den Kanzler ist Klimapolitik vor allem Industriepolitik, er denkt an brummende Fabriken, an dicke Aufträge und gute Löhne. Niemand muss verzichten, stattdessen lässt sich mit der grünen Transformation großes Geld verdienen – das ist das Versprechen des Olaf Scholz.
Doch was ist dran am Versprechen des Bundeskanzlers? Wie weit hat sich die deutsche Wirtschaft in Richtung Klimawende bewegt – und konnten neue Arbeitsplätze geschaffen werden, unabhängig von steigenden CO2-Emissionen? Diesen Fragen sind die Experten Dr. Marcus Wortmann und Daniel Posch von der Bertelsmann Stiftung sowie Professor Jens Südekum und Philip Rademacher in einer Studie nachgegangen.
Karte zeigt, wie weit Deutschland mit dem „grünen Jobwunder“ ist
Die Studie „Regionale Disparitäten in der Transformation“ analysiert den Zusammenhang zwischen regionalen CO2-Emissionen und Wirtschaftswachstum in Deutschland von 2000 bis 2019. Die Untersuchungen zeigen, dass verschiedene Wirtschaftssektoren und Landkreise in Deutschland unterschiedlich erfolgreich dabei sind, neue Jobs und Wertschöpfung zu schaffen, ohne dabei mehr CO2 pro Kopf zu emittieren.
Wie die Studie erhoben wurde: Die Forscher nutzten für die Studie einen besonderen Ansatz, um die Entwicklung der Emissionen auf regionaler Ebene zu untersuchen, weil detaillierte Daten in den Landkreisen rar waren. Sie griffen auf Branchendaten zurück und verteilten die Emissionsprofile ganzer Wirtschaftssektoren aufgrund regionaler Beschäftigungsanteile.
Das bedeutet, dass ein Chemiewerk in einer Region pro Arbeitnehmer ähnliche Treibhausgasemissionen verursacht wie ein Werk in einer anderen Region Deutschlands. Dieser Kniff ermöglichte es den Forschern, eine Landkarte der Emissionen der deutschen Wirtschaft zu erstellen, die zumindest annähernd die Entwicklung des CO₂-Ausstoßes seit der Jahrtausendwende aufzeigt.
Ein erster Blick auf die Deutschlandkarte und die Ergebnisse der Studie zeigt, dass die Emissionen vor allem dort zurückgegangen sind, wo auch die Wirtschaft geschrumpft ist. Das muss sich in Zukunft ändern, fordert der Ökonom Wortmann. „Um bis 2045 ein klimaneutrales und wohlhabendes Deutschland zu erreichen, müssen Wertschöpfung und Beschäftigung unabhängig vom CO2-Ausstoß werden – und zwar flächendeckend”, sagt Wortmann zu FOCUS online Earth. “Die Studie zeigt erstmals auf der Ebene der deutschen Kreise, dass diese Entkopplung in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht nur unterschiedlich, sondern völlig unzureichend funktioniert hat.“
Vor allem Industrieregionen wie das Ruhrgebiet, die Lausitz oder das Saarland verzeichnen zwar sinkende CO2-Emissionen, verlieren aber gleichzeitig an Wertschöpfung durch den Wegfall von Arbeitsplätzen in der Kohle- und Stahlindustrie. In den nördlichen Landkreisen Deutschlands konnten die Forscher zwischen 2000 und 2019 einen starken Anstieg der Emissionen messen, der vor allem auf die emissionsintensive Schifffahrt und Logistik zurückzuführen ist.
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„Einzelnen Landkreisen ist die Dekarbonisierung zwar bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum gelungen”, sagte der Wirtschaftsprofessor Jens Südekom, Co-Autor der Studie, dem “Spiegel”. “Aber in der Breite der Wirtschaft ging die Reduktion der Emissionen im Produktionssektor mit dem Abbau von Beschäftigung einher.“
CO2-Entkopplung darf nicht in Deindustrialisierung enden
Auffällig ist den Studien-Autoren zufolge, dass vor allem in den deutschen Großstädten viele Jobs geschaffen wurden, in denen der CO2-Ausstoß gesunken ist. Ein Beispiel hier sei Köln, so der Ökonom Daniel Posch – allerdings kein Vorzeige-Beispiel: „In Köln hat zum Beispiel eine CO2-Entkopplung stattgefunden, aber diese kann nicht unbedingt als beispielhaft für Deutschland gelten“, so Posch zu FOCUS online Earth. „Dort gelang die CO2-Reduktion durch einen spürbaren Beschäftigungsrückgang in sehr emissionsintensiven Industrien, der durch Wachstum in Dienstleistungsbranchen überkompensiert wurde. Dekarbonisierung ging hier also mit einer Deindustrialisierung einher.“
Das Problem dahinter heißt „Carbon Leakage“: Wenn energieintensive Industrien Deutschland verlassen, in andere Länder abwandern und nicht ihre Produktion und Wertschöpfung umstellen, dann werden die CO2-Emissionen einfach woanders ausgestoßen. Deshalb müssen Unternehmen und Politik gemeinsam daran arbeiten, die Wertschöpfung im Land zu halten, die Industrie klimaneutral zu machen und sich auf die Zukunftsmärkte vorzubereiten.
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Vor allem Schiffsbranche hat große Transformations-Probleme
Transformations-Probleme haben vor allem Landkreise, in denen sich Wirtschaftszweige konzentrieren, die schwer zu dekarbonisieren sind oder noch nicht weit genug dekarbonisiert sind. Folgende Regionen gehören laut der Studie zu den Problem-Kreisen:
- Kreis Uckermark in Brandenburg, wegen der Mineralölproduktion
- Automobilregion Wolfsburg (VW) und Dingolfing-Landau (BMW)
- Stadt Düren in Nordrhein-Westfalen, wegen der Papierindustrie
Offensichtlich seien die Herausforderungen der Transformation in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich, bilanziert Ökonom Posch. Aber auch die Möglichkeiten, den Wandel zu bewältigen, seien ungleich verteilt. „So ist davon auszugehen, dass die grüne Transformation die Automobilcluster um Stuttgart oder Wolfsburg nicht so hart treffen wird wie die vergleichsweise kleinen, hochspezialisierten Zulieferer im Saarland oder in Thüringen. Hier braucht es ein regionalpolitisches Update, dass die deutschen Landkreise fit für das postfossile Zeitalter macht“, so Posch.
Was die Okönomen fordern, damit Deutschland die Klima-Transformation gelingt
Obgleich die Ergebnisse der Studie erstmals wenig vielversprechend wirken, ziehen Posch und Wortmann kein verzweifeltes Fazit. Das Land habe insgesamt Fortschritte beim Entkoppeln von Treibhausgasen und der Wirtschaftsleistung gemacht. Demnach habe das produzierende Gewerbe seit 2000 seine Emissionen gehalten, obwohl die Wirtschaftstätigkeit zugenommen hat. “In einem makroökonomischen Sinne hatte Deutschland somit Erfolge beim Decoupling“.
Dennoch sei dies nicht genug, wenn Deutschland das „grüne Wirtschaftswunder“ erreichen will, das Scholz versprochen hat. „Die grüne Transformation hat das Potenzial, die regionalen Disparitäten in Deutschland weiter zu verschärfen“, warnt Posch. „Wenn gleichwertige Lebensverhältnisse auch in Zukunft Staatsziel bleiben sollen, braucht es eine politische Gestaltung des Strukturwandels, um den unterschiedlichen regionalen Ausgangsbedingungen bezüglich der Emissionsintensität gerecht zu werden.“
Zu dem Strukturwandel gehört vor allem eines, so das Fazit von Wortmann: Investitionen. „Die Entkopplung von Wohlstand und Treibhausgasemissionen darf nicht durch eine Deindustrialisierung geschehen, sondern muss mithilfe von Investitionen in eine klimaneutrale Industrie gelingen. Die Studie zeigt, dass sich die deutsche Regionalpolitik künftig proaktiver auf die Industrietransformation mit all ihren lokalen Besonderheiten ausrichten sollte, um überall gleichwertige Lebensverhältnisse zu sichern.“