Vor dem Bundesverfassungsgericht steht das neue Wahlrecht der Ampel auf dem Prüfstand. CSU, Linke und weitere Kläger üben daran Kritik.
KARLSRUHE taz | Im kommenden Jahr soll der Bundestag neu gewählt werden. Doch nach welchem Wahlrecht? Das Bundesverfassungsgericht verhandelt an diesem Dienstag und Mittwoch darüber, ob die im März 2023 beschlossene Wahlrechtsreform Bestand haben kann.
Umstritten ist zum einen, dass ein Wahlkreis künftig ohne Direktmandat bleiben kann – und zum anderen, dass die Grundmandatsklausel abgeschafft wurde. Geklagt haben unter anderen 195 Abgeordnete von CDU/CSU, das Land Bayern, die CSU, Die Linke und der Verein Mehr Demokratie.
Die Wahlrechtsreform wurde erforderlich, weil der Bundestag immer größer wurde. Statt der vorgesehenen 598 Abgeordneten hat er in der laufenden Wahlperiode 734 Sitze. Schuld sind Überhang- und Ausgleichsmandate. Die Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustehen. Damit das Wahlergebnis dadurch nicht verzerrt wird, erhielten die anderen Parteien bisher Ausgleichsmandate.
Überhang- und Ausgleichsmandate hat der Bundestag mit der Ampelmehrheit vor einem Jahr abgeschafft, um die Größe des Bundestags verlässlich auf 630 Sitze zu begrenzen. Jede Partei soll nur noch so viele Sitze bekommen, wie es ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht. Die Wahlkreissieger mit den niedrigsten Prozentanteilen gehen deshalb leer aus.
„Grundvertrauen massiv erschüttert“
„Das Grundvertrauen in demokratische Wahlen ist massiv erschüttert, wenn die Wahl im Wahlkreis in vielen Fällen keine Entscheidung herbeiführt, keinen Gewinner hat“, kritisierte der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. „Mandate werden in diesem System nicht mehr gewonnen, sondern zugeteilt“, ergänzte CDU-Chef Friedrich Merz. „Wenn man das Wahlergebnis von 2021 zugrunde legt, wären in Bayern 7 von 47 Wahlkreisen verwaist geblieben, hätten also keinen direkt gewählten Abgeordneten“, rechnete Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) vor.
Für den Bundestag verteidigte der Berliner Rechtsprofessor Christoph Möllers die Reform. Der Bundestag habe bei der Ausgestaltung des Wahlrechts einen weiten Gestaltungsspielraum. „Er hätte auch ein reines Verhältniswahlrecht ohne Wahlkreise einführen können“, sagte Möllers. „Die Wahlkreise wurden aber beibehalten, damit die Kandidaten dezentral aufgestellt werden und im Bundestag nicht nur Vertreter von zentralen Parteilisten sitzen.“
Zweiter großer Streitpunkt ist die Streichung der Grundmandatsklausel. Danach konnten Parteien, die die 5-Prozent-Hürde verfehlen, trotzdem ihrem Wahlergebnis entsprechend in den Bundestag einziehen, wenn sie mindestens drei Direktmandate geholt haben. Zuletzt profitierte davon Die Linke, die mit 4,9 Prozent der Stimmen dank dreier Direktmandate doch mit 39 Abgeordneten in den Bundestag einzog. Auch für die bislang nur in Bayern antretende CSU mit bundesweit zuletzt 5,2 Prozent der Stimmen war die Grundmandatsklausel eine Lebensversicherung.
„Es kann nicht sein, dass die CSU möglicherweise in 47 Wahlkreisen gewinnt, aber keinen einzigen Abgeordneten stellen darf, weil sie bundesweit nur 4,9 Prozent holte“, protestierte Dobrindt. „Die bayerischen Wähler werden dafür bestraft, dass sie eine bayerische Partei gewählt haben.“
Linke und CSU fühlen sich bestraft
Für Linkspartei drohte ihr ehemaliger Partei- und Fraktionschef Gregor Gysi, der seit 1990 immer ein Direktmandat errang, er werde bei der nächsten Wahl als Unabhängiger antreten. Dann könne er das errungene Mandat behalten, das ihm das neue Wahlrecht verwehrt, wenn er für die Linke kandidiert und die Partei bundesweit unter 5 Prozent bleibt. „Diese Ungleichbehandlung ist nicht zu rechtfertigen“, kritisierte Gysi in Karlsruhe.
Falls das Bundesverfassungsgericht dies beanstandet, könnte nicht nur eine neue Grundmandatsklausel eingeführt werden, auch eine Absenkung der 5-Prozent-Klausel (auf zum Beispiel 3 Prozent) wäre denkbar. Das Urteil wird in einigen Wochen verkündet.