Johannes Erlemann wurde 1981 als Elfjähriger in Köln entführt. Drei Entführer rissen den Jungen im Forstbotanischen Garten von seinem Fahrrad und brachten ihn in einen in die Erde eingelassenen Verschlag, in dem sie ihn zwei Wochen lang anketteten. Nach einer Lösegeldzahlung von 3 Millionen D-Mark wurde Erlemann freigelassen. Sein Vater, ein international agierender Finanzinvestor, saß zu dem Zeitpunkt wegen Betrugsverdachts in Untersuchungshaft. Erlemanns Mutter hatte die Lösegeldübergabe persönlich durchgeführt.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Doch damit war der Albtraum für den jungen Erlemann noch nicht vorbei. Nicht nur die Medien stürzten sich auf ihn, sondern auch die Polizei, die anfangs die Familie des Elfjährigen selbst im Verdacht hatte. Rund zwei Monate später stellte sich das als Fehlschluss dar, die Täter wurden festgenommen und später zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Nachdem zu Erlemanns Fall im vergangenen Jahr bereits ein Spielfilm, bei dem Erlemann Co-Produzent war, sowie eine Dokumentation erschienen waren, veröffentlicht der heute 54-Jährige an diesem Donnerstag (11. April) sein Buch über die Erlebnisse von damals unter dem Titel „Befreit. Wie ich als Kind entführt wurde und was ich dabei über das Leben gelernt habe“.

Herr Erlemann, wie ist es für Sie, anlässlich des Buches wieder zahlreiche Interviews zu führen, nachdem Sie 1981 nach der Entführung eine Art Hetzjagd von Medien und Polizei auf Sie erlebt haben?

Es ist die Ironie der Geschichte, dass ich, was mir damals zur Qual wurde ‒ nämlich die Medien ‒, seitdem selbst bediene. Ich bin vom Fernsehen gejagt worden, um dann selbst schon Ende der 80er zur Presse und zum Fernsehen zu gehen und Journalist zu werden.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Sie haben also Frieden geschlossen mit der Presse?

Ja, das ist damals auch eine andere Zeit gewesen. Allein was die Polizei mit mir veranstaltet hat nach der Entführung, war ein Albtraum. Da haben mir Polizisten als Elfjähriger nach der Entführung noch mal die Augen zugeklebt und mich im Auto in eine Kiste gesteckt, damit ich den Motorsound des Autos identifiziere. Und wenn 15 Erwachsene neben einem stehen und das völlig in Ordnung finden, fragt man sich schon: Vielleicht bin ich derjenige, der nicht mehr klar denken kann?

Wie oft denken Sie heute noch im Alltag an Ihre eigene Entführung aus dem Jahr 1981?

Ich habe, bis ich vor vier Jahren das Projekt mit Film, Doku und Buch angegangen bin, jede Nacht über Jahrzehnte schlecht davon geträumt. Das war ein Albtraum. Sämtliche Schreckensszenarien, die man sich vorstellen kann, habe ich durchträumt. Und ich habe das immer als relativ normal empfunden. Es war für mich fast eine privilegierte Situation, weil ich mit vielen anderen Entführungskindern zu tun habe und da schwer traumatisierten Menschen begegnet bin. Da dachte ich immer, ich bin gut dabei weggekommen.

Was hat sich geändert, dass die Albträume geendet haben?

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Mit der Produktion des Films, der Doku und des Buches habe ich das Thema Entführung der Nacht entrissen, mit dem Endergebnis, dass ich nicht mehr davon träume. Das ist bemerkenswert, ich hatte mich schon mit den Albträumen abgefunden. Durch das Projekt habe ich mir unfreiwillig eine Art Konfrontationstherapie verpasst. Ich habe darauf bestanden, dass wir für den Spielfilm an den echten Orten der Entführung drehen, auch an dem echten Acker, an dem ich freigelassen wurde. Dann lag ich da als Erwachsener, habe mich fesseln und mir die Augen verbinden lassen, um dem kleinen Cito, der mich gespielt hat, zu zeigen, wie das passiert ist.

Eindrücklich beschreibt Johannes Erlemann in „Befreit“ seine Entführung aus dem Jahr 1981, aber auch das Familienleben vorher sowie seine Erfahrungen danach.

Eindrücklich beschreibt Johannes Erlemann in „Befreit“ seine Entführung aus dem Jahr 1981, aber auch das Familienleben vorher sowie seine Erfahrungen danach.

Was war das Schwierigste daran, an die Originalschauplätze der Entführung zurückzugehen?

Vor Ort selbst war alles so belegt mit den Kameras und der Crew. Aber bei der Freilassungsszene habe ich mit meinem Handy ein bisschen mitgefilmt. Zu Hause habe ich mir dann die halbe Nacht die Aufnahmen angeschaut, und es war, als wäre damals bei der Entführung die Kamera dabei gewesen. Ich habe die Videos immer wieder angeschaut und dann angefangen, kleine Clips daraus zu schneiden, bis um 6 Uhr morgens meine Frau runterkam und sagte: „Das reicht.“ Das war das Heftigste, nicht der Moment, während ich vor Ort lag, sondern als ich das alles zu Hause angeschaut habe. Da lief es mir eiskalt den Rücken runter. Das war ein 1-A-Verarbeitungsprozess.

Nach der Konfrontation waren die Albträume weg. Gibt es dennoch Folgen der Entführung, die Sie jetzt noch körperlich oder psychisch spüren?

Eigentlich nur die Tatsache, dass ich eine unerträgliche Gelassenheit vielem gegenüber habe. Also wenn Dinge aus dem Alltag hochstilisiert werden, stresst mich das im Gegensatz zu anderen nicht. Da höre ich oft: „Wie kannst du jetzt so ruhig bleiben?“ Ich denke, es gibt Schlimmeres. Und ich bin sehr lichtempfindlich. Ich laufe meistens mit Sonnenbrille herum. Ich habe mir während der Entführung beim Pokern mit den Tätern mal kurz eine Taschenlampe erspielt. Die Dunkelheit war echt eine Katastrophe. Dann hatte ich diese Taschenlampe für zwei, drei Tage und habe mir ins Auge geleuchtet und damit herumgespielt. Das hat meinen Augen wohl nicht gutgetan.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Können Sie Dunkelheit heute wieder ertragen?

Ja, ich kann durch die tiefsten Wälder laufen, das habe ich auch als Fünfzehnjähriger schon wieder gemacht. Da habe ich nie Angst gehabt, die Entführung hat eher eine Form von Überheblichkeit bei mir hinterlassen. Aber ich kann es nicht ertragen, wenn mich jemand anfasst. Da kann ich sehr ungehalten werden.

Sie sagten vorhin, dass Sie sich privilegiert gefühlt haben im Gegensatz zu anderen, die ähnliche Erlebnisse hatten und da traumatisierter herausgegangen sind …

Ja, ich habe einige traumatisierte Kinder getroffen, genauso wie ich Natascha Kampusch eine Weile begleitet und dabei erkannt habe, dass ich etwas Besonderes mit mir herumtrage im Umgang mit dieser Geschichte, das ich teilen möchte. Als ich das erste Mal 2013 mit Natascha bei Günther Jauch in einer ARD-Sendung war, habe ich danach mehr als tausend Briefe bekommen von Leuten, die mir noch heute schreiben, dass ich ihnen einen Blick nach vorne zeigen und ihnen Mut spenden konnte. Das war wie ein Motor, der mich auch angetrieben hat, dieses Buch zu schreiben.

Johannes Erlemann und Natascha Kampusch lernten sich 2013 in einer ARD-Sendung von Günther Jauch kennen.

Johannes Erlemann und Natascha Kampusch lernten sich 2013 in einer ARD-Sendung von Günther Jauch kennen.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Wie sind Sie dann vorgegangen?

Ich habe erst Autoren und Ghostwriter getroffen und am Ende festgestellt, dass ich das, was ich bei der Entführung empfunden habe, nur selbst verfassen kann. Wie will jemand anderes aufschreiben, was in diesem Verschlag passiert ist, wenn ich das selbst kaum formulieren kann? Ich hoffe, ich habe es geschafft, in dem Buch eine Annäherung an die Erlebnisse aufzuschreiben. Komplett darlegen können wird man das nie. Es gibt auch, was die Entführer betrifft, einen Haufen Antworten, die ich gern hätte.

Was sind das für Fragen, die Sie den Entführern gern stellen würden?

Ich habe Fragen zu Dingen, die passiert sind in dem Verschlag. Ich wünsche mir, dass ich mich durchweg versöhnlich dazu bewegen kann, die Entführer noch mal zu treffen. Ich muss mich vermutlich beeilen, einer ist schon gestorben. Ich bin immer ein kleiner Grenzgänger, der sich auch gern in einem Metier bewegt, bei dem andere sagen: „Das kann man nicht machen.“ Eine befreundete Psychoanalytikerin sagte mir auch: „Johannes, lass diese Schublade zu. Du hast doch ein super Leben. Warum tust du dir das an?“ Das hätte ich aber zutiefst bereut. Ich musste die Schublade aufmachen. Ich habe sie rausgerissen und mich in die Schublade gesetzt und alles durcheinandergebracht.

Wie können Sie sich nach mehr als 40 Jahren noch so gut erinnern?

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Ich habe die Entführung noch im Kopf, als wäre sie vor zwei Wochen gewesen. Aber ich musste noch mal ins Detail gehen in meiner Erinnerung. Das ging los mit einer verstaubten Kiste auf dem Dachboden eines Polizeireporters, der ganz viele Unterlagen von damals noch zu dem Fall hatte. Das waren zum Beispiel handschriftliche Briefe der Entführer. Ich habe aber auch noch einige Fragezeichen. Ich bin zum Beispiel auch ins Landesarchiv zur Akteneinsicht, und bis auf das Urteil war nichts mehr in meiner Akte.

Und Sie wissen nicht, was mit dem Rest der Akte passiert ist?

Nein. Aber mein Fall war im Nachhinein ja ein 1-A-Polizeiskandal, das hat vermutlich irgendwer verschwinden lassen. Es fehlt außerdem ein Teil vom Lösegeld. Als mein Großvater noch lebte, hat er gesagt: „Hol dir dieses Geld zurück, das steht dir zu.“ Aber ich finde, das steht mir nicht zu, ich habe das nicht mal verdient. Und bei meiner ganzen Kinderschar zu Hause wollte ich einen Teufel tun und solche Schwerverbrecher auf den Plan rufen, damit die das Geld zurückzahlen.

Johannes Erlemann im Jahr 1980, ein Jahr vor der Entführung, mit seinen Eltern und seinem Bruder.

Johannes Erlemann im Jahr 1980, ein Jahr vor der Entführung, mit seinen Eltern und seinem Bruder.

Die Täter haben Ihnen damals heftig gedroht, falls Sie sie verraten sollten. Wann sind Sie diese Angst vor einer möglichen Rache losgeworden?

Ich hatte keine Angst. Todesangst hatte ich nur in dem ersten Moment, als sie mich vom Rad gerissen haben. Ich habe den Kontakt mit den Entführern damals gescheut auch wegen meiner Kinder, aber heute kann ich mir ein Treffen vorstellen. Viele haben mich auch gefragt, ob ich alles ungeschehen machen würde, wenn ich könnte. Die Antwort ist: Niemals. Das hat ja mein Leben geprägt. Wenn ich jeden Tag denken würde, dass ich es gern ungeschehen machen würde, hätte ich jeden Tag schlechte Laune. Aber ich liebe das Leben.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Waren Sie bei der Erziehung Ihrer Kinder dennoch vorsichtiger wegen Ihrer eigenen Erlebnisse?

Nein, auch wenn das oft zu Verwunderung geführt hat. Ich wollte meine Kinder an keiner Stelle wegen meiner Kindheitserfahrungen in ihrem Entwicklungsweg einschränken. Ich habe die ganz normal laufen lassen.

Mit diesem Steckbrief wurde 1981 von der Polizei nach Johannes Erlemann gesucht.

Mit diesem Steckbrief wurde 1981 von der Polizei nach Johannes Erlemann gesucht.

Wie offen haben Sie Ihren Kindern von der Entführung erzählt?

Ich habe, als sie noch jünger waren, gehadert, weil ich nicht wollte, dass sie Angst bekommen. Als ich es dann irgendwann erzählen wollte, entgegneten die Kinder nur: „Du meinst jetzt nicht die Geschichte, die Omi uns letzten Sommer schon erzählt hat? Die kennen wir schon.“ Damit war das dann abgehakt (lacht).

Mit Ihrer Mutter haben Sie erst sehr spät noch mal ausführlich über die Entführung gesprochen.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Ja, in der Tat. Es war immer so, als hätten wir keinen Gesprächsbedarf. Wir müssen aber festhalten: Die Heldin der ganzen Geschichte ist meine Mutter. Mein Vater saß in Untersuchungshaft, mein Bruder war schwer krank, und dann wurde ich entführt. Da kann man sich auch direkt einen Strick suchen. Aber meine Mutter hat eine derartige Souveränität bewahrt, das ist unfassbar. Als ich losgelegt habe mit den ganzen Projekten, habe ich festgestellt, dass es bei mir eine große Leerstelle gibt, nämlich ihren Part. Dann bin ich mit ihr zum Ort der Geldübergabe gefahren, da war ich vorher nie. Das war auch für sie ein Flashback. Sie wusste alles noch ganz genau. Die Dokumentation über den Fall wird auch irrsinnig von ihren Erzählungen getragen.

Wie war das für Ihre Mutter?

Vor der Veröffentlichung der Doku haben wir uns die zusammen angeschaut, und das war eine Kalt-heiß-Dusche für sie. Sie hat gelacht, geweint, und zum Schluss haben wir uns in den Arm genommen und nicht mehr losgelassen. Ich hatte auch vorher ein gesundes Verhältnis zu meiner Mutter. Aber es ist toll, wenn man zu Lebzeiten die Chance hat, solche Dinge aufzuarbeiten.

Was im Buch nicht thematisiert wird: Haben Sie Ihrem Vater jemals die Schuld gegeben für die Entführung? Er stand schließlich extrem in der Öffentlichkeit.

Ja, indirekt schon. Mein Vater war ein absoluter Publikums- und Presseliebling. Der stand früher genauso wie ich später im Fokus. Bei mir gab es ja direkt nach der Freilassung das Interview mit der „Tagesschau“ im weißen Bademantel. Die Absprache war dann, am nächsten Tag noch ein Termin für die ganzen Zeitungen, das sollte es sein. Dass ich dann weitere Jahre auf Schritt und Tritt verfolgt worden bin, hängt irgendwie auch mit der Bekanntheit meines Vaters zusammen. Ich habe natürlich in Betracht gezogen, dass sein lauter Auftritt in der Öffentlichkeit unfreiwillig die Entführer dazu gebracht hat, sich das Erlemann-Kind zu schnappen. Aber das sind Gedanken, bei denen man im Vorfeld weiß, dass sie kein Ergebnis haben werden.

Johannes Erlemann gab 1981, direkt nach der Freilassung, ein Interview in der „Tagesschau“ – im weißen Bademantel. Denn Polizisten hatten ihn vorher, angeblich um Spuren zu sichern, komplett nackt ausgezogen.

Johannes Erlemann gab 1981, direkt nach der Freilassung, ein Interview in der „Tagesschau“ – im weißen Bademantel. Denn Polizisten hatten ihn vorher, angeblich um Spuren zu sichern, komplett nackt ausgezogen.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Haben Sie darüber mit Ihrem Vater gesprochen?

Ich habe es mal erwähnt. Das war im Rahmen einer Tour, die ich mit ihm gemacht hab, zwei Jahre vor seinem Tod. Da hatten wir ständig solche Momente der Besinnung. Natürlich sagte er, der Tag der Entführung war der schlimmste Tag seines Lebens. Und wenn er es im Ansatz geahnt hätte, hätte er alles anders gemacht. Aber wer ahnt das schon? Da kann ich ihm keinen Vorwurf machen. Aber die Zeit nach der Entführung war auf eigene Art und Weise auf ähnlichem Niveau wie die Entführung selbst. Es war eine Vollkatastrophe, und mein Vater war nicht da. Da habe ich mich schon gefragt: Wo ist er, wenn er wirklich gebraucht wird? Das ist natürlich eine Quatschfrage, weil er in Untersuchungshaft saß, aber es waren Empfindungen, die ich hatte. Auf der anderen Seite hat er mich gut trainiert mit seiner „Der macht das schon“-Mentalität. Dieses Funktionierenmüssen war für mich der Kern, das Ganze zu überleben. Deshalb sage ich auch immer: Ich bin kein Opfer, ich bin ein Überlebender.



Source link www.kn-online.de