Die kapitalistisch organisierte Weltgesellschaft hat sich absolut gesetzt und erscheint vielen Zeitgenossen als »alternativlos«. Die klassischen Dystopien des vorigen Jahrhunderts (Jewgeni Samjatin, Aldous Huxley und George Orwell) schrieben ihre Gegenwart negativ fort. Bücher über auf exotischen Inseln lokalisierte Utopien hingegen, wo Menschen ein unbekanntes, aber besseres Leben führen, sind uns inzwischen – wie »gelobte Länder« überhaupt – abhandengekommen.
Jakob Schäfer versucht dem abzuhelfen und unternimmt eine Zeitreise in die fiktive Stadt »Mellopolis«. Das ist eine autarke Kommune in einer nicht allzu fernen Zukunft, die nach einer »großen Krise«, der ein »breiter Aufruhr« folgte, den Kapitalismus bereits hinter sich gelassen hat. Sofern es noch Beziehungen zur Weltwirtschaft gibt, sind diese unklar. Der Autor kommt aus unserer Gegenwart angereist und hat deshalb Mühe, sich in diesem Utopia zurechtzufinden. Wie in allen Reiseberichten über ferne Länder und unbekannte Zukünfte ist es schwierig, Wünsche und Träume von Einheimischen, Beobachtungen und Informationen von Reisenden sowie die Vorurteile, Projektionen und Fabeleien der Ethnologen auseinanderzuhalten. Darum ist es hilfreich, wenn Schäfer im zweiten Teil des Buches die Rolle des Reisereporters aufgibt und auf die »politisch-philosophischen Grundlagen« zu sprechen kommt.
Zunächst aber zur Charakteristik der Traumstadt Mellopolis, wie sie dem Autor heute vorschwebt. Die Gründung und die nachkapitalistische Transformation von Mellopolis waren nur im Gefolge der großen gesellschaftlichen Umwälzung möglich, die dort vor wenigen Jahrzehnten stattgefunden hat (und über die man nichts Näheres erfährt). Die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und des Nationalstaats – das klassische Projekt der Kommunisten und Anarchisten – ist bereits kein Thema mehr; sie wird stillschweigend vorausgesetzt wie auch die Abschaffung von Bürokratie, Heer und Polizei. Ebenso verhält es sich mit der Gleichstellung der Geschlechter und der Reform der Sexualökonomie, auch wenn »freie Beziehungen« und die definitive Auflösung der bürgerlichen Kleinfamilie noch strittig sind. Vom Staat wird lakonisch gesagt, er sei noch immer nicht gänzlich »abgestorben«.
Sämtliche Neuerungen dienen der Reduktion der notwendigen Arbeitszeit und dem Kampf gegen die Erderwärmung. Arbeitsteilung und Klassenspaltung sind samt Armut und Arbeitslosigkeit abgeschafft; eine Subsistenzwirtschaft mit weitgehender Reduktion des Einsatzes von Maschinen und Energie hat die Waren- und Export-Produktion abgelöst. Das Geld ist ebenfalls abgeschafft, Güter und Dienstleistungen werden, soweit sie in der Liste der »Grundbedürfnisse« aufscheinen, gratis verteilt; nur Sonderwünsche werden mit Arbeitszeit-Gutscheinen bezahlt.
Die materielle Produktion wurde zurückgefahren (»degrowth«), private Automobile gibt es nicht mehr; überhaupt wird der Personenverkehr eingeschränkt. Das Territorium der Stadt wird sukzessiv verkleinert, im Umland soll es wieder »Urwälder« geben und in der Stadt »Verwaldung« und »urban gardening«. Landwirtschaft wird von allen – und zwar vorwiegend mit Handarbeit – betrieben. Mehrfamilien- beziehungsweise Mehr-Generationen-Häuser mit Gemeinschaftsküchen und Kleingruppen-Kitas sind die bevorzugte Wohnform. Wichtiger als Symptombekämpfung und Krankenversorgung ist die Vorsorge – eine umfassende »Saluto-Genese«. Alle Stadtbewohner verfügen über Grundkenntnisse in Handwerk und Pflege. Leitbild ist der (spielerisch) »produktive« Mensch; die notwendige Arbeit soll durch Rotation, die der Spezialisierung entgegenwirkt, attraktiv (»lustvoll«) werden.
Parteien bilden sich um alternative (darunter auch »veraltete«) Interessen und Projekte und werben um Mehrheiten. Dezentralisierung ist Trumpf; als Regel gilt: So viel lokale und regionale Selbstverwaltung wie möglich, so wenig Entscheidungen zentraler, also Landes-Gremien, wie nötig. Schäfers Vision einer nachkapitalistischen Räte-Kommune erinnert sowohl an Karl Korschs vor 100 Jahren entwickelte Konzeption einer »Industriellen Autonomie« als auch an Charles Fouriers vor 200 Jahren erdachte Wohn- und Produktionsgenossenschaft »Phalanstère«. Hatte Fourier sich besonders mit der architektonischen Planung seiner Mustersiedlungen befasst, so beschreibt Schäfer die Zeiteinteilung der Mellopoliten: Monatlich sind für alle arbeitsfähigen Bewohner 90 Stunden Arbeit »für Allgemeinaufgaben der Gesamtbevölkerung« verpflichtend; im Durchschnitt wird wöchentlich 20 Stunden gearbeitet; täglich bleiben pro Kopf mindestens zehn Stunden arbeitsfrei. Die Arbeitsproduktivität ist – trotz resoluter Material- und Energie-Einsparungen – derart gestiegen, dass künftig auch weitere Arbeitszeitverkürzungen möglich scheinen.
Für »Mellopolis« knüpft Jakob Schäfer teilweise an sein 2022 erschienenes Buch »Die Warengesellschaft und die Herausforderung der multiplen Krise« an. Als Leitsterne seines »philosophisch-anthropologischen Kompasses« figurieren Marx und Engels, ergänzt durch Ernest Mandel und Daniel Bensaïd; zudem wird auf neuere archäologische und ethnologische Studien verwiesen, die die Existenz von egalitär-staatenlosen Kulturen nachgewiesen haben.
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Da die (seit Platon) entworfenen und von Anhängern der Utopisten und Propheten gegründeten Musterkolonien »für alle passend« sein sollten, bedurfte es – über kurz oder lang – auch des Zwangs. Und so lauert in den bestausgedachten Utopien die Dystopie. Hunderte von Musterkolonien, die seit den Tagen Fouriers in der alten und in der neuen Welt gegründet worden sind, gaben nicht – wie er es erhofft hatte – den Anstoß zum Übergang zu einer weltweit neuen, besseren Lebensform, sondern verfielen nach wenigen Jahren oder Jahrzehnten. Engels nannte Fourier einen Satiriker, doch auch nicht wenige utopische Entwürfe und Verfassungen frühsozialistischer Kolonien lesen sich heute, als seien sie deren Satiren.
Das Neue an der Konzeption von »Mellopolis« ist, dass deren Bewohner nicht nur entschlossen scheinen, alles zu tun, um den drohenden Klimawandel aufzuhalten, sondern dass sie, infolge besagter »Umwälzung« – und mit dem Instrumentarium der Selbstverwaltung – zumindest in ihrer Stadt und im Verbund ähnlicher Kommunen auch eine reale Möglichkeit dazu haben. »Die Utopie überspringt die Zeit«, schrieb Max Horkheimer. Für die Utopisten »ist die Änderung des Bestehenden […] in den Kopf der Subjekte verlegt.«
In »Mellopolis« geht die Angst vor einem »Rückfall in alte Verhaltensmuster aus der Konkurrenzgesellschaft« um, als »eine wesentliche Errungenschaft der Revolution« gilt nämlich die langfristige Bemühung um eine »Umstellung vom Subjekt auf das Kollektiv«. Diese Option für den anti-individualistischen Kollektivismus bezeichnet im Denken der Mellopoliten den Punkt, an dem ihre Angst vor dem Rückfall (in »veraltete« Lebensweisen) sie geradewegs einem solchen Rückfall zutreibt. Mit der Abschaffung von Privateigentum und Staat scheint in Mellopolis auch die Erinnerung an das barbarische 20. Jahrhundert verloren gegangen zu sein, in dem die großen, menschenverschlingenden Regime im Namen des Kollektivismus den (als »bürgerlich« oder »reaktionär« verpönten) Individualismus und die Individualisten mithilfe von »massenfeindlichen Massenbewegungen« auszurotten suchten. Marx und Engels aber wollten mitnichten die neuzeitliche Emanzipation rückgängig machen und eine Rückkehr zu Gruppen-Ich und Clan-Gewissen. Sie wollten vielmehr die »Klassen-Individuen« der kapitalistischen Gesellschaft auch von dieser »sachlichen Abhängigkeit« befreit wissen und eine »Freie Individualität«.
Sagen wir es mit den Worten des russischen Dichters der Revolutionszeit, dem wir die erste Dystopie des vorigen Jahrhunderts (den 1920 geschriebenen Roman »Wir«) verdanken: »Die Welt lebt nur durch Häretiker […]. Wir haben die Epoche der Unterdrückung der Massen erlebt; wir erleben heute die Unterdrückung des Einzelnen im Namen der Massen; das Morgen wird die Befreiung des Einzelnen im Namen des Menschen bringen.«
Jakob Schäfer: Mellopolis ’48. Eine Reportage. New Academic Press, 125 S. br., 12,90 €.
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