München – Für Cordula Schweizer (alle Namen der Betroffenen von der Redaktion geändert) scheint die Heim- und Klinik-Odyssee ihres Kindes kein Ende zu nehmen. Dabei will die fünffache Mutter (44) aus München doch nur das Beste für ihren Sohn Nils (10). Will, dass er endlich an einem für ihn geeigneten Ort zur Ruhe kommt, wo alles auf seine Bedürfnisse ausgerichtet ist und er dabei professionelle Hilfe und Unterstützung bekommt.

Der Grund: Der Junge leidet seit seinem zweiten Lebensjahr an der psychiatrischen Störung ADHS (englisch: Attention Deficit Hyperactivity Disorder, deutsch: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung). “Betroffene lassen sich leicht ablenken, sind motorisch unruhig und leiden unter einer erhöhten Impulsivität, wenn alle drei Hauptsymptome ausgeprägt sind”, erklärt Matthias Klosinski, Professor für Psychische Gesundheit in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München.

“Nervlich belastend”: Mutter aus München sucht verzweifelt nach Hilfe

Hinzukommen bei Nils eine Bindungs- und Impulskontrollstörung, was ein Zusammenleben mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in einem Haushalt unmöglich macht. Seit seinem sechsten Lebensjahr ist er in diversen psychiatrischen Fachkliniken und Kinderheimen untergebracht.

In einer Mail an die AZ-Redaktion schildert Cordula Schweizer ihre offenbar ausweglose Lage, kritisiert teilweise das Münchner Jugendamt und bittet um Hilfe. “Es war all die Jahre emotional, nervlich belastend und einschränkend”, erinnert sich die Mutter. “Es war kein Leben, es war ein tägliches Überleben!”

Prof. Dr. Matthias Klosinski.
Prof. Dr. Matthias Klosinski.
© BerlinBlick
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von BerlinBlick

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Sie habe sich ausgelaugt, entkräftet und frustriert gefühlt. “Wir wollten einfach nur den Tag heil rumkriegen.” Der Frau fiel es jedes Mal schwer, ihren Sohn in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie einweisen zu lassen. Aus Sicht von Klosinski, der auch Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie ist, “profitieren Kinder und Jugendliche häufig von einer stationären Aufnahme”.

Und ergänzt: “In einer Klinik können sie besonders intensiv behandelt werden und sich auf ihre therapeutischen Ziele oft besser konzentrieren. Häufig schärft ein Klinikaufenthalt auch nochmals die diagnostische Einschätzung. Ein Klinikaufenthalt kann auch zur Krisenintervention, Stabilisierung und Perspektivenplanung dienen.” Davon können laut dem Experten auch die Eltern profitieren.

Hilfe für Kinder mit ADHS: Eine Lücke im System

Obwohl sich die Mutter, die von Kinder- und Bürgergeld lebt, schon vor Jahren proaktiv beim Münchner Jugendamt gemeldet und nach eigenen Angaben mehrfach um Hilfe gebeten habe, bekam sie, als Nils noch nicht schulpflichtig, also im Kindergartenalter war, immer die Antwort: Hier hinterlässt das Hilfesystem eine Lücke. “Es gab bis dato keine Unterstützung vom Jugendamt, auch nicht von der Verwandtschaft.” Nur ihre beste Freundin Maja (44) hilft ohne Unterlass.

Rückblick: Ein Silberstreif am Horizont kommt 2020 auf. Nils wird in einem Kinderheim im Landkreis Garmisch-Partenkirchen untergebracht, bleibt bis Sommer 2023. “Er hat sich dort positiv entwickelt, hat sich wohlgefühlt. Alles lief gut”, sagt Cordula Schweizer. Dann der herbe Rückschlag. Wegen Personalmangel muss Nils’ Wohngruppe schließen, er landet kurz darauf in einem Kinderheim im Landkreis Fürstenfeldbruck.

Drama um ADHS-Jungen aus München: Rasierklingen-Attacke im Heim

Hier läuft es alles andere als friedlich ab. “Ein anderer Junge hat Nils mit Rasierklingen attackiert, weshalb mein Sohn mit verbundenen Armen von der Polizei zu mir gebracht wurde.” Das Kind ist völlig traumatisiert, aufgewühlt und bekommt mittlerweile Medikamente. Die Mutter kritisiert das Jugendamt, weil die Einrichtung im Landkreis Fürstenfeldbruck ihrer Meinung nach nicht für ihren Sohn geeignet gewesen sei. Des Weiteren sei es ein “Unding”, dass eine Wohngruppe aufgrund von fehlendem Personal einfach “dichtgemacht wird”.

Das ist Wasser auf die Mühlen von Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München. “Generell braucht es dringend mehr stationäre Jugendhilfeeinrichtungen und entsprechende Plätze, außerdem ein sehr gut ausgebildetes Personal, vor allem im Bereich Pädagogik und Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen. Insbesondere für Kinder mit Störungen des Sozialverhaltens und emotionalen Störungen, Bindungsstörungen fehlt es häufig an professionellen längerfristigen Angeboten.”

Eine Heim-Unterbringung sei immer vom Einzelfall abhängig, sagt das Sozialreferat

Auf AZ-Nachfrage beim Sozialreferat gibt es keine konkreten Antworten zu dem konkreten Fall. Die Begründung: “Zum Schutz des Kindes dürfen wir keine personenbezogenen Daten herausgeben”, sagt Frank Boos vom Kommunikations-Team des Sozialreferats. Nur so viel, wie das Jugendamt vorgeht, wenn ein Kind in einem Heim untergebracht werden soll: “Zur Einschätzung der Situation des Kindes, des Jugendlichen und seiner Familie sowie des Unterstützungsbedarfes macht sich das Sozialbürgerhaus ein persönliches Bild. Im Anschluss berät das zuständige Sozialbürgerhaus im Rahmen eines Fachteams zum Antrag und spricht eine Empfehlung aus.” Die Dauer der Platzsuche sei vom Bedarf des Kindes, des Jugendlichen sowie den freien Platzkapazitäten der stationären Angebote abhängig.

Für Kinder- und Jugendpsychiater Klosinski sollten “Jugendhilfemaßnahmen einvernehmlich zwischen Sorgeberechtigten, Jugendamt und Behandlern abgestimmt” werden. Dabei stets im Fokus: “das Kindeswohl und eine möglichst gesunde Entwicklung ohne Teilhabebeeinträchtigung”. Auch wann eine Heimunterbringung Sinn ergibt, ist laut der Behörde immer vom Einzelfall abhängig “und damit der individuellen Situation des Kindes, des Jugendlichen und seiner Familie”. Wichtig: Ohne die Mitarbeit und die Motivation der betroffenen Kinder und Jugendlichen und deren Eltern gehe es nicht. Allerdings ist nicht jedes Heim für jedes Kind geeignet. Laut Klosinski gebe es “unterschiedlich ausgerichtete Fremdunterbringungen”, und weiter: “Ein wichtiger Aspekt ist häufig, Alltagsstrukturierung und -bewältigung unter Anleitung zu verbessern, einen regelmäßigen Schulbesuch zu sichern sowie das soziale Miteinander zu üben und als Ressource zu nutzen.”

Bis September vergangenen Jahres lebt Nils bei seiner Mutter und seinen Geschwistern. Doch die haben Angst vor ihm, wenn er mal wieder ausrastet. Selbst sein biologischer Vater Carsten (44), der zwar in München lebt, aber nicht im selben Haushalt, und als Lkw-Fahrer für eine Spedition innerhalb Deutschlands viel unterwegs ist, kann das Kind nicht bändigen, ist genauso überfordert wie die Mutter. Die Konsequenz: Nils wird erneut in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie in München eingeliefert, wo er in der Vergangenheit des Öfteren war.

Obwohl sich die Lage laut Schulte-Körne bei stationären und teilstationären Behandlungsplätzen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bayern in den vergangenen Jahren verbessert habe, “hält im Bundesvergleich der Freistaat in Bezug auf die Einwohnerzahl mit die wenigsten dieser Plätze vor”. Er fordert: “Hier ist also durchaus noch Handlungsbedarf.”

Deutschlandweite Suche nach einem passenden Heim

Dass die Psychiatrie keine Dauerlösung ist, wissen sowohl die Eltern als auch das Jugendamt. Daher wäre eine Einrichtung im Landkreis Traunstein nach Meinung der Mutter “ideal” gewesen. Aber die Einrichtung erteilt eine Absage. “Sie haben sich die Betreuung nicht zugetraut – obwohl das Jugendamt eine zusätzliche Fachkraft für Nils zur Verfügung gestellt hätte”, berichtet Cordula Schweizer weiter.

Währenddessen gibt das Jugendamt nicht auf, sucht mittlerweile deutschlandweit nach einem passenden Heim für Nils. “Mit viel Engagement hat die Behörde einen Platz in Bremen aufgetan. Eine Einrichtung, die auf die Bedarfe meines Sohnes ausgerichtet ist”, erzählt Cordula Schweizer erleichtert. Das dreitägige Probewohnen in der Freien Hansestadt läuft ohne Zwischenfälle ab. Nils gefällt die Einrichtung, nur die Distanz zu München macht ihm Kummer. Dabei kann aus Sicht des Experten Klosinski ein Einrichtungswechsel im Einzelfall sogar hilfreich sein. “Beispielsweise wenn ein Wechsel von einer geschlossenen auf eine offene Wohngruppe möglich wird. Es sollte dabei immer reflektiert und geprüft werden, welche Vorteile man sich von einem Wechsel erhofft.”

“Wie auf heißen Kohlen”, sagt die Mutter des Kindes

Allgemein erklärt das Jugendamt, dass eine Heimunterbringung für ein Kind immer eine große Umstellung sei, weil sie in einer neuen Umgebung sind, getrennt von Eltern. “Die Träger stationärer Einrichtungen achten darauf, dass den Kindern, den Jugendlichen ein familienanaloger Alltag, zum Beispiel durch Freizeitaktivitäten, Ferienfreizeiten, geboten wird.”

Cordula Schweizer sagt, sie habe in den vergangenen Tagen “wie auf heißen Kohlen gesessen”. Die Gruppenleitung der Bremer Einrichtung ließ sich mit der Zusage Zeit. Spätestens im Mai könnte Nils nach Bremen ziehen. Doch bis es so weit ist, wohnte er im Münchner Waisenhaus im Stadtteil Neuhausen-Nymphenburg.

Seine Mutter hat große Angst, dass die Zusage aus Bremen nur temporär gilt, ein anderes Kind den Platz bekommt. “Die Gruppenleitung hat mir deutlich gemacht, dass es keinen Sinn machen würde, Nils gegen seinen Willen aufzunehmen. Integration und Zusammenarbeit seien dann schwierig”, sagt sie. Noch weiß Nils nicht, dass das Bremer Kinderheim ihn aufnimmt. Vermutlich ist ihm das auch egal. Denn er will laut der Mutter keine 700 Kilometer von zu Hause entfernt sein.





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