Robi Friedman beschäftigt sich schon lange mit der Frage, wie Krieg eine Gesellschaft verändert. Jetzt kann er es in seiner Heimat Israel tagtäglich erleben.

Portrait von Robi Friedman

Der israelische Psychologe Robi Friedman in seinem Wohnzimmer in Haifa Foto: Jonas Opperskalsi

wochentaz: Herr Friedman, der 7. Oktober, an dem Terroristen der Hamas ein Massaker mit über tausend Toten in Israel verübten und zahlreiche Geiseln nahmen, ist ein halbes Jahr her. Wie geht es Ihnen inzwischen?

Robi Friedman: Das hängt davon ab, wie es meiner Familie geht, meiner jüngsten Tochter und meinen drei Enkeln. Wenn sie einen guten Tag haben, habe ich auch einen guten Tag. Wenn sie einen schlechten Tag haben, geht es auch mir und meiner Frau schlecht. Im Großen und Ganzen versuche ich zu akzeptieren, dass es jetzt so ist. Dass mein Schwiegersohn nie wieder zur Tür hereinkommen wird.

Er hat sich am 7. Oktober freiwillig als Soldat zum Einsatz gemeldet und wurde in einem Kibbuz erschossen.

Ich habe lange gebraucht um zu verarbeiten, was wirklich passiert ist. Als mein Schwiegersohn von den schweren Angriffen auf diese Kibbuzim, auf diese Dörfer erfahren hat, muss das einen wahnsinnigen Druck auf ihn ausgeübt haben: einzugreifen, den Menschen dort zu helfen. Am Morgen war er noch zu Hause, und zwei oder drei Stunden später hat er total vergessen, dass er eine Familie hat. Das zu akzeptieren ist schwer. Aber in so einer Situation kämpft man selbstlos. Ich würde sagen, die eigenen Leute bedingungslos zu verteidigen ist ein Instinkt.

Hadern Sie mit seiner Entscheidung?

Er ist umgekommen, und ich sehe seine Familie. Da gibt es zwei Perspektiven, die im Konflikt miteinander stehen. Aber nein, ich hadere nicht. Man denkt, man hat eine Wahl. Wenn dann etwas passiert wie am 7. Oktober, dann ist die Wahl plötzlich weg. Man muss kämpfen. Ich habe mit meiner Frau da­rüber gesprochen. Ich hätte das auch gemacht. Und jeder, der in so einem Gefecht ist und lebend rauskommt, der weiß: Er hat Glück gehabt. So etwas passiert auch dem besten Soldaten.

wurde 1948 in Uruguay geboren. Seine Mutter war aus Nazideutschland geflohen, sein Vater schon 1930 aus Transsilvanien emigriert. Mit 13 zog Friedman nach Israel in einen Kibbuz. Friedman studierte Psychologie und Wirtschaft und spezialisierte sich als Psychologe auf Gruppentherapie. Er war lange Präsident der Internationalen Gesellschaft der Gruppenanalytiker und hat in zahlreichen Konflikten vermittelt. Der Buch „Die Soldatenmatrix“ (Psychosozial-Verlag, 2018) versammelt Texte, die Friedman zum gleichnamigen Konzept geschrieben hat. Heute lebt Friedman mit seiner Frau in Haifa.

Ihre Enkelkinder sind sechs, neun und bald elf Jahre alt. Wie geht es ihnen und Ihrer Tochter?

Eine Mutter muss einen Weg finden, um den Kindern das Gefühl zu geben, dass alles einigermaßen läuft. Meine Tochter verarbeitet die Dinge kreativ. Auf Facebook führt sie ein Tagebuch, sie zeichnet Comics und schreibt Lieder. Interessant war, was mein Enkel gesagt hat, in der ersten Stunde, nachdem er vom Tod seines Vaters erfahren hatte. Ich war mit ihm ein bisschen spazieren, und er sagte: Großvater, mein Vater ist jetzt tot, und ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Das ist wie ein Wegweiser. Die Hinterbliebenen wissen nicht mehr, wohin. Alles fällt auseinander. Sie müssen sich erst wieder orientieren. Inzwischen hat sich das stabilisiert.

Ihr Enkel hat wieder ein wenig Halt gefunden?

Ja, alle drei Enkel, glaube ich. Er hat Halt gefunden und verliert ihn dann plötzlich wieder. Emotional geht es immer noch weit rauf und runter. Aber man sieht, es ist ein Prozess.

Sie sind Psychologe und ein international anerkannter Gruppenanalytiker. Nach dem 7. Oktober war das Entsetzen, der Schmerz, die Wut in Israel riesig. Was beobachten Sie, wo steht die israelische Gesellschaft heute?

Am Anfang hat die Existenzangst alles dominiert. Dass die Hamas-Kämpfer die Grenzmauer überwinden konnten an Dutzenden Orten, war ein Schock. Was sie den Menschen angetan haben, dass sie sich dabei gefilmt haben, das hat einen wahnsinnigen Terror verbreitet. Auch meine arabischen Patienten hatten große Angst, sie sind in den Augen der Hamas ja die Ungläubigen. Alle Leute haben gedacht: Jetzt bin ich unsicher in meinem eigenen Land. Viele, Linke wie Rechte, wollten eine Waffe haben.

Menschen in einem Café. Ein Mann trägt ein Gewehr, er hat ein Kind auf dem Arm

November 2023, Tel Aviv: Der Anblick von Gewehren ist alltäglich geworden in Israel Foto: Ziv Koren/Polaris/laif

Und heute?

Im Norden Israels ist die Angst immer noch groß, man weiß nicht, was die Hisbollah plant. Andernorts fühlen sich viele wieder etwas sicherer. Die größte Veränderung gibt es im Umgang mit dem Krieg. Am Anfang meinte man, man müsse mit einer Stimme sprechen, mit einer Stimme denken. Man hörte überall den Slogan: Wir werden zusammen gewinnen, ob links oder rechts spielte keine Rolle.

Die Gesellschaft rückte zusammen.

Diese Einheit ist immer erstaunlich in Kriegen. Bei den Nazis damals war der Spruch: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Man sieht es auch im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Ich vermittle öfters in Konflikten und arbeite auch mit Russen. Selbst wenn sie Familie in der Ukraine haben, sind viele für Putin, weil sie meinen, sie müssten mit einer Stimme sprechen. In Israel ist das schon wieder etwas anders. Die Diskussion, ob die Befreiung der Geiseln Priorität haben sollte, spaltet die Gesellschaft. Die Demonstrationen für die Geiseln gehen immer öfter über in Proteste gegen die Regierung.

Robi Friedman

„Wie auf Knopfdruck werden alle zu Soldaten, die gesamte Bevölkerung wird eingezogen. Natürlich müssen nicht alle kämpfen, aber jeder hat eine Rolle in diesem Krieg.“

Sie haben schon vor längerer Zeit eine Theorie entwickelt, wie ein Krieg die Gesellschaft verändert, die „Soldatenmatrix“. Was verbirgt sich dahinter?

Eine Matrix ist eigentlich eine Kultur. Der Begriff beschreibt die Kultur der Beziehungen, die Kultur der Kommunikation und ihren Sinn. Die Geschichte, die Erinnerungen sind auch Teil der Matrix. Sie prägt die Gespräche, aber auch die Berichterstattung in den Medien und das Internet. Wenn es Krieg gibt, dann verändert sich die Matrix. Wie auf Knopfdruck werden alle zu Soldaten, die gesamte Bevölkerung wird eingezogen. Natürlich müssen nicht alle kämpfen, aber jeder hat eine Rolle in diesem Krieg. Deshalb habe ich mein Konzept „Soldatenmatrix“ genannt.

Was tun die, die nicht kämpfen?

In Israel haben Leute den Soldaten Essen gebracht, andere helfen in den Kliniken oder unterstützen Flüchtlinge aus den Kibbuzim oder aus dem Norden, die in Hotels wohnen. Es haben so viele Hilfe angeboten. Allein in meinem Arbeitsbereich haben sich 2.500 Psychologen, Sozialarbeiter und Psychiater freiwillig gemeldet, um mit Menschen zu reden, die terrorisiert wurden, um Posttraumata zu verhindern.

Sie meinen: Alle stellen sich in den Dienst der Sache?

Ja. Der Krieg verändert das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Man stellt sich selbst zurück. Es ist erst mal nicht wichtig, wie viel Geld ich verdiene, wie es meiner Familie geht, sondern was ich tun kann für die Gemeinschaft. Es gibt eine große Solidarität.

Und dazu gehört auch, dass alle mit einer Stimme sprechen?

Erst mal ja. Die Linksliberalen in Israel haben ein Jahr lang viel gegen die Regierung demonstriert. Meine Frau und ich, wir sind jeden Samstagnachmittag bis in die Nacht bei den Demonstrationen gewesen. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Mit dem 7. Oktober war das vergessen. Menschen von beiden Seiten haben zusammen gekämpft. Die Kampfgruppe ist für Soldaten das Wichtigste. Nach dem Tod meines Schwiegersohnes haben wir viel Zuspruch von allen Seiten bekommen.

Sie meinen, auch von Menschen, die politisch anders denken?

Ja. In der jüdischen Tradition bleibt die Familie nach dem Begräbnis sieben Tage zu Hause und alle kommen vorbei: Verwandte, Freunde, Nachbarn. Sie bringen Essen, man sitzt zusammen. Es waren Menschen bei uns, die hatte ich jahrelang nicht gesehen. Die Spaltung war auf einmal weg.

Eine Frau trägt eine Einkaufstüte in der Hand und ein Gewehr um die Schulter

Auch diese Soldatin auf Heimaturlaub trägt ihre Waffe in der Öffentlichkeit Foto: Ziv Koren/Polaris/laif

Ihr Schwiegersohn hat sein Leben gegeben für die Menschen in den Kibbuzen. Wird er dafür verehrt?

Meinem Schwiegersohn war Ruhm zuwider. Er und die anderen dort in den Dörfern haben gegen die Existenzangst gekämpft. Aber später kam der Ruhm doch. In der Soldatenmatrix trauert man, indem man jemanden idealisiert, man macht ihn zum Helden. Als wir ihn begraben haben, sind Tausende gekommen. Enorm viele haben so von ihm gesprochen.

Wie war das für Ihre Familie?

Meine Tochter konnte das am Anfang überhaupt nicht annehmen. Sie hat ihn ja nicht als Soldat geliebt, sondern als Mensch. Mein Schwiegersohn war ein typischer Anti-Autoritärer, er hatte das Militär nicht gerne. Er wusste, wir können ohne nicht existieren, aber er wollte kein Held sein. Und dann kommen Leute und behaupten das, weil es ihnen hilft, den Tod zu akzeptieren. Man sollte ihnen diesen Trost nicht nehmen. Heute sagt meine Tochter: Auf eine Art war er ja ein Held, auch wenn er es nicht wollte.

Robi Friedman

„Mit einer liberalen offenen Gesellschaft verträgt sich die Soldatenmatrix nicht.“

Wenn in einem Krieg alle zusammenrücken, gibt das sicher viel Kraft. So eine Einheit kann aber auch mit einem Zwang zum Konformismus einhergehen, oder?

Ja, es bedeutet Uniformität. Diese Einheit, die es nach dem 7. Oktober gab, war zum Teil illusionär. Mit dem Überfall der Hamas haben wir das wenige Vertrauen in die Regierung verloren, das wir noch hatten. Auch die Armee hat nicht funktioniert. Wir brauchen aber Vertrauen, um das Trauma zu überwinden. Die politische Spaltung wird jetzt wieder sichtbar.

Israelis, die gegen den Krieg sind, haben es in der öffentlichen Debatte schwer.

Das ändert sich. Ich höre im Radio Mütter, die sagen: Meine Tochter gehört nicht der Armee, die gehört mir. Wenn man so etwas während eines Krieges sagen kann, dann hat man relativ viele Freiheiten. Aber ja, wir sind im Krieg. Jedes Mal, wenn ich das Radio einschalte, habe ich Herzklopfen. Wie viele Soldaten sind gestorben, was ist mit den Geiseln? Solange sie in einer so großen Gefahr schweben, ist es schwer, von der Uniformität wegzukommen. Ich glaube, ein langer Waffenstillstand könnte das ändern.

Sind Sie für einen Waffenstillstand?

Wenn ein Waffenstillstand die Geiseln retten würde, wäre ich dafür. Ich wäre auch dafür, wenn er eine Chance bieten würde, dass die Hamas den Gazastreifen verlässt, dass die Menschen dort von der Diktatur befreit werden und es eine palästinensische Regierung gibt, die den Staat Israel akzeptiert. Dass die Hamas bleibt, ist die schlechteste Option. Sie will uns zerstören. Ich möchte, dass meine Kinder und Enkel in Frieden leben können, dass sie nicht umkommen. Dass man Frieden schließen kann mit Menschen, die denken, dass Israelis oder Juden nicht existieren dürfen, das bezweifle ich.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Die starke Solidarität mit den eigenen Leuten ist eine Seite des Krieges, eine andere ist der Verlust von Empathie für den Feind.

Auch das gehört zur Soldatenmatrix. Nur so kann man töten. Man verliert die Empathie, man verliert die Schuldgefühle. Man schämt sich nicht mehr für das, was man dem Feind antut. Am Schluss ist der Andere kein Mensch mehr. In Deutschland konnte man die Entwicklung sehen, von den Nürnberger Rassegesetzen 1935 bis zur Wannseekonferenz. Juden, Sinti und Roma, Polen, sie wurden entmenschlicht. Heute beschleunigen Fake News so einen Prozess. Selbst Menschen, die sonst eher kritisch wirken, glauben gerne, auf der anderen Seite stünden nur Faschisten. Je größer die Identifikation mit der Soldatenmatrix, desto bereitwilliger glauben Menschen so etwas. Fake News helfen, den Feind zu verachten, zu hassen. So eine Dehumanisierung macht allerdings auch etwas mit einem selbst.

Was meinen Sie?

Wenn man das Leben nicht schätzt, fällt das früher oder später auch auf einen selbst zurück. Die Hamas hat den Tod von über tausend Menschen gefeiert, ohne jede Empathie. Es wurden Frauen vergewaltigt und gefilmt. Es wurden Kinder zerstückelt und gefilmt. Das hat einen Einfluss auf die, die das machen.

Welchen?

Auch das Leben der eigenen Kämpfer ist für die Hamas unwichtig. Wenn jemand stirbt, ist das nicht schlimm, er wird zum Märtyrer, er bekommt Ruhm. Das Versprechen von Ruhm ist – neben der Existenzangst – ein wichtiger Antrieb der Soldatenmatrix.

Wenn die Dehumanisierung auf einen selbst abfärbt, gilt das auch für Israel? Die Armee hat Zehntausende im Gazastreifen getötet.

Anders als bei der Hamas ist bei uns jeder Tod eines Soldaten etwas sehr Schlimmes. Es stimmt, dass bei den Bombardements gerade zu Beginn die Hemmungen gering waren, es sind sehr viele in Gaza umgekommen. Man hat das im israelischen Fernsehen dann nicht mehr gezeigt. Man hat die Zahl der Toten nicht mehr genannt. Die Leute in Israel wollen nicht mit dem Schmerz der Bevölkerung in Gaza in Kontakt kommen, sie wollen nicht mitleiden. Das wird ins Unbewusste verdrängt, es macht sich anders bemerkbar.

Wie denn?

Ich rede mit meinen Patienten auch über ihre Träume. Ich habe selbst viel geträumt in den letzten Monaten. Ich weiß, diese Dinge sind da, aber ich will davon nichts wissen.

Darf ich fragen, was Sie geträumt haben?

Ich habe zum Beispiel geträumt, dass ich als Soldat 200.000 Kindern in Gaza helfen sollte, vom Norden in den Süden zu flüchten. Es war schwierig, die Hamas hat auf uns geschossen. Die Kinder waren in Gefahr, und sie hatten alle das Gesicht meines Enkels. Ich möchte diesen Traum nicht träumen, aber etwas in mir träumt ihn. Die Empathie, sie ist da, genau wie die fehlende Schuld, die fehlende Scham.

Sie waren früher selbst Offizier. Befassen Sie sich auch deshalb so intensiv mit dem Thema Krieg?

Wahrscheinlich. Ich war drei Jahre bei der Armee, nach einem Jahr fing der Sechs-Tage-Krieg an. Ich habe viel über Aggressionen nachgedacht. Die sind ja nicht einfach angeboren, man lernt sie. Man lernt auch, Soldat zu sein. Wobei ein guter Soldat nicht aggressiv ist, im Gegenteil, man muss die Aggressionen zügeln können. Bei uns reden die Vertreter der Armee zurzeit auch viel bedachter als unsere Politiker.

Der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant hat vom Kampf gegen „menschliche Tiere“ gesprochen.

Er steht voll unter dem Einfluss der Soldatenmatrix. Für mich zeigen solche Aussagen, dass dieser Mann nicht professionell ist. Er hat das kurz nach dem 7. Oktober gesagt, und er hat sicherlich für einen Teil der Gesellschaft gesprochen. Die Hamas und die Palästinenser wurden gehasst, man hat alle in einen Topf geworfen. Es gibt Umfragen, dass eine Mehrheit in Gaza die Hamas unterstützt. Aber das sind ja doch unschuldige Leute, die sich mit dem nationalen Bedürfnis identifizieren, so etwas passiert sehr leicht. Als Minister sollte Galant die Rachegefühle nicht auch noch anstacheln.

Sie selbst versuchen, sich von der Soldatenmatrix freizumachen?

Natürlich. Ich habe das Konzept entwickelt, damit wir verstehen, wo wir sind. Es ist ein Versuch zu reflektieren, was im Krieg mit uns passiert. Sobald wir das reflektieren, haben wir eher eine Wahl, wie stark wir uns mit der Matrix identifizieren wollen. Das heißt nicht, dass wir uns ganz davon freimachen können. Selbstlos kämpfen müssen wir trotzdem, wenn es drauf ankommt.

Wenn das Mitgefühl fehlt und es einen Zwang zur Konformität gibt, ist das bedenklich. Andererseits ist es sicherlich richtig, in einer Bedrohungslage zusammenzurücken. Ist die Soldatenmatrix nun gut oder schlecht?

Das lässt sich so nicht beantworten. Es gibt sie. Sie sichert das Überleben, und sie wirkt seit Tausenden von Jahren überall auf der Welt. Immer dann, wenn Menschen sich existenziell bedroht fühlen, auch nach Naturkatastrophen oder in der Pandemie. Man kann allerdings sagen: Mit einer liberalen offenen Gesellschaft verträgt sich die Soldatenmatrix nicht.

Weil es dafür eine offene Debatte braucht?

Die liberale Gesellschaft funktioniert nur ohne Angst. Als Liberaler möchte man nicht wissen, dass man eigentlich paranoid sein muss. Man muss aber Angst haben, wenn im Nachbarland eine Diktatur herrscht wie die Hamas. Oder, aus deutscher Perspektive, Putin in Russland. Das ist ein Paradox in unserem zivilen Leben. Am besten ist es, wenn man eine Armee hat, die sich darum kümmert. Ein Teil der Regierung muss sich auch damit befassen, damit alle anderen ruhig schlafen können. Wir Liberalen, wir wollen schlafen.

Schlafen klingt so unwissend, naiv. Pa­zi­fis­t*in­nen würden sagen: Eine friedliche Welt ist kein Traum, sondern eine politische Option, auf die man hinarbeiten muss.

Auch Freunde von mir sind Pazifisten und es ist gut, dass es in einer liberalen Gesellschaft diese Stimmen gibt. Aber ich würde sagen, das ist mehr ein guter Glaube als die Realität. Wenn du den Frieden gerne hast, musst du wachsam sein und dich stärken.

Hätten Sie das vor dem 7. Oktober auch gesagt?

Ja, das habe ich auch vorher so gesagt. Ich habe am 7. Oktober etwas Anderes gelernt. Wenn jemand mit mir nicht reden will, dann hat das eine größere Bedeutung, als ich dachte. Die Hamas will nicht nur nicht reden, sie will mich umbringen. Sie würde alle Israelis umbringen, wenn sie es könnte. Das ist mir erst durch den 7. Oktober richtig klar geworden, leider.

Sie haben oft in Konflikten vermittelt, auch zwischen Palästinensern und Israelis. Was glauben Sie, wie es in Israel weitergeht?

Soldatenmatrizen bewirken immer einen Rechtsruck. Viele junge Israelis, die im Kampf waren, sind voller Hass gegenüber Arabern. Ich habe Angst, dass dieser Hass politische Folgen hat. Die meisten Araber in Israel haben das Massaker vom 7. Oktober scharf verurteilt. Ich hoffe, dass sie einen Platz in der Regierung bekommen, dass auch sie eine Stimme haben.

Und was den Krieg betrifft?

Es muss jemanden geben, der beiden Seiten sagt: Krieg ist keine Lösung. Beide Seiten müssen sich am Ende bewegen, sie müssen sich verständigen.

Glauben Sie, dass eine Verständigung auch langfristig tragen könnte?

Soldatenmatrizen sind hartnäckig. Wenn man sich einmal klar mit etwas identifiziert hat, auch wenn es etwas Schlimmes ist, dann versucht man das zu erhalten. De-identifizieren ist sehr schwierig und kann Generationen dauern. Aber es ist möglich. Ich habe gemeinsam mit Partnern „Voices after Auschwitz“ organisiert: Kinder und Enkel von Nazis haben dabei mit Kindern und Enkeln von Holocaustüberlebenden gesprochen, sechs Mal drei Tage lang. Sie haben in einer Art miteinander geredet, die kritisch und selbstkritisch war, fast liebevoll, mit einer großen Nähe. Einen schlimmeren Feind als die Nazi-Gesellschaft hatten wir noch nie. Das gibt mir Hoffnung.



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