Nach der Befreiung von vier israelischen Geiseln aus der Hand der Hamas gewinnt Israels angeschlagener Premierminister Benjamin Netanjahu wieder Oberwasser. Die Rettung der seit acht Monaten von der palästinensischen Terrorgruppe gefangen gehaltenen Israelis scheint Netanjahus Konzept schonungsloser militärischer Härte gegenüber der Hamas zu bestätigen. Sein Erzrivale Benny Gantz zog vor dem Hintergrund des landesweiten Jubels über die Rettungsaktion die Konsequenz und gab am Sonntagabend seinen Rückzug aus der Regierung bekannt. Dies wiederum schwächt Netanjahu im Moment seines Triumphes: Er hat zwar auch ohne die Unterstützung von Gantz eine Mehrheit im Parlament. Er ist nun aber noch stärker seinen rechtsradikalen Koalitionspartnern aus dem Lager der religiösen Siedler ausgeliefert.

Mit dem Schritt von Gantz war seit Längerem gerechnet worden. Der frühere Berufssoldat lehnt Netanjahus Gaza-Politik im Grundsatz ab und hatte dem Premier bereits im Mai ein Ultimatum gestellt, eine Nachkriegslösung für Gaza vorzustellen. Nun verzögerte Gantz seine Entscheidung vor dem Hintergrund der Befreiungsaktion um einen Tag. „Die Regierung zu verlassen ist eine schwierige und schmerzvolle Entscheidung“, sagte er. Er habe sie treffen müssen, da Netanjahus Politik einen „wahren Sieg Israels“ unmöglich mache. Gantz rief Netanjahu auf, Neuwahlen auszuschreiben.

Im Grunde hatte Gantz nach seinem Ultimatum keine Möglichkeit mehr, länger in der Regierung zu bleiben. Die dramatische Geiselbefreiung änderte die Lage zu Gunsten Netanjahus: Der hatte die spektakuläre Militäraktion sofort für seine Zwecke genutzt, sich mit einer der befreiten Geiseln gezeigt und sich den Erfolg der riskanten Operation auf die eigene Fahne geschrieben. „Wir haben dich keinen einzigen Moment aufgegeben“, so Netanjahu zu der 26 Jahre alten Noa Argamani, die er in einem Krankenhaus aufsuchte. „Ich weiß nicht, ob du noch daran geglaubt hast, aber wir haben daran geglaubt. Ich bin glücklich, dass es wahr geworden ist.“

Der Ex-General würdigt den Einsatz, ohne Netanjahu zu loben

Der Oppositionspolitiker Gantz, der die Netanjahu-Regierung seit dem Terrorangriff vom 7. Oktober mitgetragen hatte, steckte damit in der Zwickmühle. Er hatte von Netanjahu seit Langem einen Plan für eine Verhandlungslösung zur Befreiung der noch immer 116 Geiseln aus der Hand der Hamas eingefordert und eine Nachkriegsstrategie im Umgang mit den Palästinensern im Gazastreifen verlangt. Netanjahu hatte dies ignoriert. Gantz hatte seinen Austritt aus der Regierung daher bereits im Mai angedroht.

Gantz muss nun versuchen, die Opposition zu stärken und hinter sich zu einen. Zwar kam es auch nach Bekanntwerden der Befreiungsaktion in Tel Aviv, Jerusalem und anderen Städten wieder zu Anti-Netanjahu-Demonstrationen. Während am Wochenende davor aber rund 120 000 Menschen auf die Straßen gegangen waren, sollen es diesmal nur einige Zehntausend gewesen sein. Sie forderten einen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung für die restlichen 116 Geiseln. Von diesen sollen mehr als 40 bereits tot sein.

„Wir haben dich keinen einzigen Moment aufgegeben“: Premier Benjamin Netanjahu begrüßt Noa Argamani (2. v. re.) im Krankenhaus. (Foto: IDF Spokesperson’s unit via GPO/dpa )

Die Mehrheit der Bevölkerung ist Umfragen zufolge derzeit wie Netanjahu der Meinung, dass der Gaza-Krieg bis zur Zerschlagung der Hamas weitergeführt werden muss. Wenig Beachtung findet in Israel, dass bei der Befreiungsaktion zwischen 100 und weit mehr als 200 Palästinenser getötet wurden. Für die Israelis zählt, dass vier der Entführten nach acht Monaten in der Hand der Hamas lebend nach Hause gebracht werden konnten. So kam es im gesamten Land zu Freudenfeiern. Besondere Bedeutung gewinnt das Schicksal von Noa Argamani. Die junge Frau war während ihrer Entführung gefilmt worden, wie sie auf einem Motorrad sitzend von einem Hamas-Terroristen verschleppt wird, in Panik ihren Freund um Hilfe ruft und den Militanten anfleht: „Töte mich nicht.“

Diese Bilder gingen um die Welt. Noa Argamani und die drei ebenfalls befreiten Männer waren am 7. Oktober auf dem Supernova-Tanzfestival in Südisrael gekidnappt worden. Sie waren in Al-Nuseirat in Zentral-Gaza nach Angaben eines israelischen Militärsprechers in zwei Wohnhäusern von palästinensischen Zivilisten festgehalten worden, die dafür von der Hamas bezahlt worden seien.

Die Befreiungsaktion in Nuseirat erfolgt unter heftigen Kämpfen. Zwischen 100 und weit über 200 Palästinenser kommen dabei um. (Foto: Marwan Daoud/dpa)

Ausgeführt hatten den riskanten Einsatz Eliteeinheiten der Armee, des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet und die zur Grenzpolizei gehörende Antiterroreinheit Jamam. Sie wurden von der Luftwaffe massiv unterstützt. Offenbar war das Geiselversteck den Sicherheitskräften schon länger bekannt, sodass der Einsatz genau vorbereitet werden konnte. Er verlief dennoch sehr blutig.

Die Armee sprach von weniger als 100 getöteten Palästinensern, die Hamas von 274 Toten sowie 700 Verletzten. Ein israelischer Militärsprecher ließ offen, ob es sich bei den Getöteten mehrheitlich um Militante oder Zivilisten handelte: „Ich weiß nicht, wie viele von denen Terroristen sind.“ Der Sprecher sagte, die Kommando-Soldaten seien beim Sturm der Geiselverstecke in zwei Appartementhäusern angegriffen worden. Diese Kämpfer seien „aus der Luft und vom Boden aus“ bekämpft worden. Ein Offizier der Antiterroreinheit Jamam wurde bei dem Einsatz schwer verletzt und starb kurz darauf.

Das Land müsse nun Einigkeit zeigen, fordert der Regierungschef

EU-Chefdiplomat Josep Borrell begrüßte die Befreiung der Geiseln, zeigte sich aber angesichts der Berichte über ein „Massaker an Zivilisten“ entsetzt. „Das Blutbad muss sofort beendet werden“, forderte Borrell auf X und verlangte ebenso die Freilassung aller verbliebenen Geiseln. Die Hamas und arabische Medien bezeichneten die Aktion in Nuseirat als regelrechtes Massaker.

Die Hamas selbst, deren wichtigstes Pfand auch nach acht Monaten Krieg das Leben der Entführten ist, versuchte den Erfolg der Israelis herunterzuspielen. Ohne Beweise vorzulegen, behauptete ein Hamas-Sprecher, bei der Befreiungsaktion seien drei Geiseln ums Leben gekommen. „Indem sie schreckliche Massaker anrichteten, konnte sie zwar einige ihrer Geiseln befreien, haben aber andere im Verlauf der Operation selbst getötet.“ Hamas-Auslandschef Ismail Hanija gab sich kämpferisch. Der palästinensische Widerstand gehe weiter: „Wenn die Besatzungsmacht glaubt, sie könne uns ihren Willen mit Gewalt aufzwingen, täuscht sie sich.“

Die kommenden Wochen werden zeigen, ob Gantz sich nun glaubwürdig als Alternative zu Netanjahu präsentieren kann. Der Premier wiederum wird nun noch stärker auf die ultrarechten Minister seiner Koalition angewiesen sein. Diese lehnen jede Verhandlungslösung im Gaza-Krieg ab und würden für einen Sieg im Krieg auch das Leben der Geiseln riskieren. Die rechten Siedlerminister wollen den Gazastreifen dauerhaft besetzen und spielen offen mit der Idee der Vertreibung der Palästinenser.



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