Berlin. Als am Montagvormittag in ganz Israel zwei Minuten lang die Sirenen heulen, warnen sie nicht vor Raketenangriffen aus dem Libanon, dem Iran, dem Irak oder aus Gaza. Sie erinnern an sechs Millionen Juden, die während des Holocaust von den deutschen Nationalsozialisten und ihren Helfershelfern ermordet wurden. Autos halten, Passanten verharren in stillem Gedenken an die Opfer.

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In Israel leben noch 132.826 Holocaustüberlebende. 2500 waren direkt von den Ereignissen des 7. Oktobers 2023 betroffen, heißt es in Israel. Rund 2000 seien gezwungen gewesen, wegen des Gazakriegs ihre Wohnorte zu verlassen.

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Netanjahu wird hart bleiben

In diesem Jahr wird der nationale Gedenktag Yom HaShoah im Schatten des Kriegs begangen, der schon sieben Monate dauert. Mehr als 100 israelische Geiseln sind noch in der Gewalt der islamistischen Terrororganisation Hamas. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagt seinen Landsleuten: „Während des furchtbaren Holocaust gab es wichtige Staatenlenker, die abseits standen. Die erste Lektion aus dem Holocaust ist deshalb: wenn wir uns nicht selbst verteidigen, wird uns niemand anders verteidigen. Und wenn wir für uns allein stehen müssen, dann werden wir für uns allein stehen. Nie wieder ist jetzt!“

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Der im eigenen Land als Person, Politiker und wegen seiner Strategie umstrittene Premier macht damit zum wiederholten Mal klar, dass er hart bleiben wird: militärisch und am Verhandlungstisch. Netanjahu kündigt an, die israelische Armee werde selbst dann die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens angreifen, wenn ein Geisel-Deal zustande käme.

Am Montagabend erklärte die Hamas zwar, einem lange verhandelten Vorschlag für eine Waffenruhe zuzustimmen, der mit Hilfe der Vermittler Katar und Ägypten ausgearbeitet wurde. Was dies für das Schicksal der Geiseln und im Detail auch für den Fortgang des Konflikts bedeutet, blieb zunächst aber unklar.

Israels Armee beginnt mit Evakuierung von Zivilisten in Rafah

Am Sonntag reklamierte die Hamas einen Angriff auf den Grenzübergang Kerem Schalom zwischen Israel und dem Gazastreifen für sich.

Armee kündigt extreme Gewalt an

Währenddessen ist die Lage in Gaza humanitär eine Katastrophe, politisch ein Desaster und militärisch hoch explosiv.

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Das israelische Militär hat am Montag rund 100.000 Menschen in Rafah zur Evakuierung aufgefordert. Die Bewohner im Osten der Stadt sollten sich in eine „erweiterte humanitäre Zone“ im Bereich Al-Mawasi nahe der Küste begeben. Dort gebe es Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente. Die Armee ermögliche dort auch die Einrichtung von Feldkrankenhäusern. Die Menschen wurden darüber per SMS, Telefon sowie mit Flugblättern und über arabischsprachige Medien informiert, hieß es in einer Mitteilung der Streitkräfte. Die Versorgung der Bevölkerung mit humanitären Hilfsgütern werde während des Räumungseinsatzes ungehindert weitergehen. Man könnte diese über verschiedene Routen in den Küstenstreifen bringen, etwa über den Hafen in Aschdod.

Auf X, dem früheren Twitter, kündigte die Armee an, sie würde mit extremer Gewalt gegen Hamas-Extremisten vorgehen. Die Bevölkerung solle daher zu ihrer eigenen Sicherheit der Anweisung Folge leisten. Ein Militärsprecher sagte, es handele sich um einen „begrenzten Einsatz“. Er konnte nicht sagen, wie viel Zeit die Menschen für die Evakuierung haben. Nach Informationen des „Wall Street Journal“ will Israel seine Bodenoffensive in Rafah in Etappen durchführen. Das Blatt schrieb von zwei bis drei Wochen Evakuierung und sechs Wochen Offensive.

Verzweifelt und ratlos

Die Hamas habe ihre Kämpfer in Rafah auf den Einsatz gegen Israel vorbereitet und sie mit Proviant und Waffen versorgt, hieß es aus Israel dazu. Auch die Zahl der Wächter für die Geiseln ist nach Medienberichten verstärkt worden. Israel will mit dem Militäreinsatz in Rafah die verbliebenen Bataillone der islamistischen Terrororganisation Hamas zerschlagen, die sie seit Oktober in dem Küstenstreifen bekämpft. Es werden auch Geiseln in der Stadt an der Grenze zu Ägypten vermutet.

Der Völkerrechtler Wolff Heintschel von Heinegg von der Europa-Universität in Frankfurt (Oder) geht „eher von Tagen als von Wochen“ bei der Evakuierung aus, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Das muss zügig geschehen. Aber man kann die Menschen nicht zwingen. Ein weiteres Problem ist, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser möglicherweise durch die Hamas daran gehindert werden könnten, das gefährdete Gebiet zu verlassen. Das haben wir in der Vergangenheit regelmäßig erlebt.“

Krisen-Radar

RND-Auslandsreporter Can Merey und sein Team analysieren die Entwicklung globaler Krisen im wöchentlichen Newsletter zur Sicherheitslage – immer mittwochs.

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Israel schade allen Bemühungen, eine Waffenruhe im Gazakrieg zu erzielen, hatte Mahmud Merdawi, ein ranghohes Hamas-Mitglied, am Montag vor dem Bekanntwerden der Nachricht über den Kompromissvorschlag der Deutschen Presse-Agentur gesagt. Der Schritt werde negative Folgen auf die indirekten Verhandlungen und „katastrophale Auswirkungen“ auf die örtliche Bevölkerung haben, warnte er.

Die von den Evakuierungsaufforderungen betroffenen Menschen sind verzweifelt und ratlos. Die meisten sagen, sie wollen nicht allein gehen und ziehen es vor, in Gruppen zu reisen. „So viele Menschen sind hier vertrieben worden und müssen jetzt wieder gehen, aber niemand wird hier bleiben, es ist nicht sicher“, sagt Nidal Alsaanin am Telefon der Nachrichtenagentur AP. Er arbeitet für eine internationale Hilfsorganisation, wurde zu Beginn des Krieges aus Beit Hanun im Norden vertrieben. Alsaanin sagte, er werde 24 Stunden abwarten und dann entscheiden, was er tun werde. Möglicherweise könne er bei einem Freund in Chan Junis unterkommen.

Überfüllte Zeltlager

Die israelischen Pläne für einen Einsatz in Rafah lösen international Besorgnis aus, weil in der Stadt mehr als 1,2 Millionen palästinensische Zivilisten Schutz gesucht haben, unter ihnen laut Hilfswerk Unicef rund 600.000 Kinder. Die meisten von ihnen flohen aus ihren Häusern in anderen Teilen des Gazastreifens, um israelischen Angriffen zu entgehen.

Die Geflüchteten leben in überfüllten Zeltlagern und UN-Unterkünften und sind auf internationale Hilfe angewiesen. Das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge warnt vor den verheerenden Folgen einer Offensive in Rafah. Das UNRWA teilte mit, es werde so lange wie möglich in der Stadt bleiben, um lebensrettende Hilfe zu leisten. Unicef warnt, dass Evakuierungskorridore möglicherweise vermint oder mit nicht explodierten Sprengkörpern übersät seien. Unterkünfte und Hilfe für Kinder seien in den Gebieten, die für eine Umsiedlung infrage kämen, höchstwahrscheinlich begrenzt.

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Ägypten befürchtet unter anderem, es könnte bei einem Einsatz Israels in Rafah zu einem Ansturm von Palästinensern über die Grenze kommen. In Rafah liegt der Grenzübergang vom Gazastreifen nach Ägypten, es ist auch ein wichtiges Tor für humanitäre Hilfslieferungen in den abgeriegelten Küstenstreifen. Heftige Kämpfe in Rafah könnten die Lieferungen von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Treibstoff weiter erschweren.

Hamas fordert israelischen Abzug

Die Hamas und Israel liefern sich einen brutalen Krieg im Gazastreifen und einen Nervenkrieg am Verhandlungstisch. International steht vor allen Israel nach seiner Bodenoffensive wegen der hohen Zahl ziviler Opfer und der katastrophalen, humanitären Lage in Gaza in der Kritik. Doch auch Raketenangriffe der Hamas, wie zuletzt am Sonntag gegen den für Hilfslieferungen wichtigen Grenzübergang Kerem Schalom, fordern zahlreiche Tote und Verletzte.

Eine Sprecherin von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bekräftigte die frühere Aussage, wonach eine groß angelegte Bodenoffensive auf Rafah eine humanitäre Katastrophe wäre, „und zwar eine humanitäre Katastrophe mit Ansage“. Zugleich verurteilte sie fortgesetzte Angriffe der islamistischen Hamas auf Israel aus dem Gazastreifen.

Wenn es Israel nicht gelingt, die Völkerrechtssituation in den Griff zu bekommen, ist es wahrscheinlich, dass gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen wird

Peter Lintl,

Israel-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik

Peter Lintl, Israel-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), weist auf die „eindeutige“ Positionierung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) hin. „Wenn es Israel nicht gelingt, die Völkerrechtssituation in den Griff zu bekommen, ist es wahrscheinlich, dass gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen wird“, sagte er dem RND. „Es wird ja ohnehin schon spekuliert, dass der IGH gegen israelische Verantwortliche für den Krieg einen Haftbefehl erlassen will. Mit einer Invasion in Rafah, bei der sich die humanitäre Situation sicherlich noch weiter verschlechtern wird, scheint dies wahrscheinlicher.“

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Deal am Leben halten

Die Vereinigten Staaten als Israels engster Verbündeter haben die israelische Regierung wiederholt gedrängt, auf die Invasion zu verzichten, weil es keinen glaubwürdigen Plan zum Schutz der Zivilbevölkerung gebe. Zuletzt war William Burns, Chef des US-amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA, am Montag von Kairo über Katar in die israelische Hauptstadt gereist, um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu treffen. Bei dem Gespräch am Nachmittag ging es um einen Deal in letzter Minute für eine Feuerpause im Gazakrieg – trotz der Vorbereitungen für eine Bodenoffensive in Rafah.

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu nimmt an einer Kranzniederlegung anlässlich des Holocaust-Gedenktages in der Halle der Erinnerung in Yad Vashem teil.

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu nimmt an einer Kranzniederlegung anlässlich des Holocaust-Gedenktages in der Halle der Erinnerung in Yad Vashem teil.

Burns, berichtete die „Times of Israel“, wolle „einen Weg finden, die Hoffnung für einen Deal am Leben zu halten“.

Die Zeichen hatten zuletzt nicht besonders gut gestanden. Am Sonntag waren indirekte Verhandlungen über eine Waffenruhe zwischen Delegierten der islamistischen Hamas sowie ägyptischen und katarischen Vermittlern in Ägyptens Hauptstadt noch ohne greifbare Ergebnisse zu Ende gegangen. Burns war dabei, da sich die USA neben Ägypten und Katar als Vermittler um eine Beendigung des Gazakriegs bemühen.

Ein Stuhl bleibt leer

Auf dem Tisch liegt aktuell ein Vorschlag der Vermittler. Er sieht eine mehrstufige Abmachung zwischen Israel und der Hamas vor. Der Plan soll zur Freilassung der israelischen Geiseln, die in der Gewalt der Hamas sind, der Freilassung palästinensischer Häftlinge aus israelischen Gefängnissen sowie zu einer Beendigung des Gazakriegs führen.

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„Der Staat Israel wird die fortwährende Präsenz von Terrorstrukturen an der Grenze zu seinen Ortschaften nicht dulden.“

Joav Galant

Israelischer Verteidigungsminister

Der israelische Verteidigungsminister Joav Galant sagte nach Angaben seines Büros bei einem Telefonat mit seinem US-Amtskollegen Lloyd Austin, die Hamas habe bei den Gesprächen alle Vorschläge abgelehnt. Daher sei eine Militäraktion in Rafah jetzt notwendig und ohne Alternative. „Der Staat Israel wird die fortwährende Präsenz von Terrorstrukturen an der Grenze zu seinen Ortschaften nicht dulden.“

Bei der staatlichen Eröffnungszeremonie des Yom HaShoah am Sonntagabend in der Internationalen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem blieb ein Stuhl in der ersten Reihe des Publikums leer. Er war den 132 Entführten gewidmet, die noch immer in Gaza als Gefangene der Hamas festgehalten werden. Staatspräsident Izchak Herzog versprach in seiner Rede, sich unermüdlich für deren Freilassung einzusetzen. „Ich appelliere von Herzen an die Familien der Geiseln. Wir werden nicht ruhen und nicht schweigen, bis unsere Söhne und Töchter nach Hause zurückkehren.“

mit dpa und AP



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