Berlin. Die Bereitschaft zur Bewaffnung nimmt an Deutschlands Schulen nach Einschätzung von Schulleitungen zu. „Wir haben bemerkt, dass mehr Waffen zur Schule mitgenommen werden als früher“, sagt der Vorsitzende des Allgemeinen Schulleitungsverbandes Deutschlands, Sven Winkler, der Deutschen Presse-Agentur (DPA). Es handele sich vor allem um Messer und Anscheinswaffen, die echten Schusswaffen täuschend ähnlich sehen. Ob Schüler Waffen dabeihaben, weil sie gewaltbereit sind, oder weil sie Angst haben und diese zur Selbstverteidigung nutzen wollten, sei unklar.
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Schulen wollen Sozialarbeit ausbauen
Der Verbandsvorsitzende verwies darauf, dass der Umgangston zwischen Kindern und Jugendlichen in der Schule rauer geworden sei – so der Eindruck vieler Schulleitungen, sagte Winkler, der auch Leiter einer Schule im niedersächsischen Oldenburg ist. Häufig gebe es lokale Netzwerke etwa mit den Schulträgern, der Jugendhilfe und der Polizei, um Ursachen von Fehlverhalten und Gewalt zu ergründen und künftig zu verhindern. Grundsätzlich seien Kinder und Jugendliche in den Schulen aber mindestens genauso sicher wie in anderen Kontexten.
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Nach einer Umfrage der DPA unter den Landeskriminalämtern und Bildungsministerien sind 2022 bundesweit Tausende Fälle von Gewalt an Schulen bekannt geworden – deutlich mehr als 2019, vor der Corona-Pandemie. Allein im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen gab es demnach 2022 rund 5400 Gewaltdelikte. Neuere Zahlen liegen in vielen Ländern meist noch nicht vor.
Der Deutsche Lehrerverband führt die wachsende Zahl an Gewaltdelikten vor allem auf schwindenden Respekt und die gesellschaftliche Verrohung zurück sowie auf eine wachsende Zahl an Schülern mit Flucht- und Gewalterfahrungen. „Die Missachtung von Autorität und Regeln, eine diffuse Vorstellung von Ehre sowie Imponiergehabe erhöhen die Gewaltbereitschaft bis hin zur täglichen Mitführung von Messern für eine vermeintliche Selbstverteidigung“, sagte der Präsident des Lehrerverbands, Stefan Düll, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Lehrerverband: Mehr Schüler mit Kriegs- und Fluchterfahrung
„Die Missachtung von Autorität und Regeln, eine diffuse Vorstellung von Ehre sowie Imponiergehabe erhöhen die Gewaltbereitschaft bis hin zur täglichen Mitführung von Messern für eine vermeintliche Selbstverteidigung“, so Düll. „All das ist eingebettet in ein gesamtgesellschaftliches Klima verbaler Aggression und Bedrohung im politischen Diskurs wie auf den sozialen Plattformen und zum Teil auch von Gewalt gegen Sachen und die Polizei.“ Hinzu komme eine Art „Corona-Nachholeffekt“, erklärte der Verbandspräsident. „Zudem hat die Zahl an jungen Menschen mit Gewalterfahrung durch Krieg und Flucht zugenommen, von denen viele in beengten Wohnverhältnissen leben.“
Anja Bensinger-Stolze leitet den Organisationsbereich Schule bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Quelle: GEW
Für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) können die Schulen auf die Entwicklung derzeit nicht ausreichend reagieren. „Der dramatische Lehrkräftemangel und die viel zu geringe Zahl an Schulsozialarbeiterstellen führen dazu, dass die präventive Arbeit vor Ort oft nur stark eingeschränkt zu leisten ist“, sagte GEW-Vorstandsmitglied Anja Bensinger-Stolze dem RND. „Deshalb: Die Schulsozialarbeit muss ausgebaut werden.“ Ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung werde mit dem Startchancenprogramm von Bund und Ländern nun gemacht, müsse aber erweitert und verstetigt werden.
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VBE: Politik und Schulbehörden sehen weg
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) warf der Politik und den zuständigen Schulbehörden vor, das Ausmaß der Gewalt an den Schulen zu unterschätzen. So hätten rund ein Drittel der Schulleitungen in der jüngsten VBE-Umfrage angegeben, dass Schulministerium oder Schulverwaltung sich des Themas nicht ausreichend annehmen, sagte der Stellvertretende VBE-Bundesvorsitzenden, Tomi Neckov, dem RND. Etwa jede fünfte Schule habe angegeben, dass die Meldung von Gewaltvorfällen von den Schulbehörden unerwünscht sei.
Zudem brauche es „dringend bundeseinheitliche statistische Erfassungen, die in regelmäßigen Abständen proaktiv von der Politik veröffentlicht werden“, fordert er. Die Politik muss sich der Sache endlich mit allen Mitteln annehmen, sich schützend vor Lehrkräfte und Schulleitungen stellen und die Unversehrtheit aller an Schule beteiligten Personen sicherstellen.
Polizeistatistik: Zahl der Gewaltvorfälle an Schulen steigt
Konflikte werden auf Schulhöfen immer wieder mit Gewalt gelöst. Meistens handelt es sich bei den Delikten um vorsätzliche einfache Körperverletzungen.
Quelle: dpa
Die repräsentativen Umfragen unter Lehrkräften und Schulleitungen, die der Verband seit 2016 durchführt, bestätigten den Anstieg der Gewalt an den Schulen. Allerdings betreffe das Problem nicht nur die Bildungseinrichtungen: „Schulen sind ein Spiegel der Gesellschaft und Gewalt ist auf dem Schulhof ebenso ein wachsendes Problem, wie auch im Stadion oder im öffentlichen Raum allgemein“, sagte Neckov dem RND. „Besonders die Coronapandemie hat zu einer Verhärtung der gesellschaftlichen Fronten geführt, die die sich immer weiter fortsetzt“, so der VBE-Vize. „Ebenso sehen wir den zunehmenden Rechtsruck und die damit verbundene Gewalt als eine zunehmende Gefahr für unsere Demokratie.“
Jugendliche randalieren an Schulgebäude in Bremerhaven
Beobachtungen aus ganz Deutschland bestätigen den Befund: Aus Bremerhaven etwa wird gemeldet, dass Jugendliche Fenster einschlugen, Schüler und Lehrkräfte bedrohten und beleidigten. Fast täglich kamen schulfremde Personen auf das Gelände der Wilhelm-Raabe-Schule. Sie beschädigten Türen, entriegelten Feuerlöscher und verstopften Toiletten. „Die Lage im vergangenen Herbst war sehr unruhig“, berichtete die Schulsprecherin. „Ich habe mich unsicher gefühlt, weil man nie wusste, wie schlimm es wird oder was als Nächstes passiert.“
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Erst als ein Sicherheitsdienst im November 2023 begann, das Schulgelände zu kontrollieren, beruhigte sich die Lage an der Schule. Zeitweise waren täglich jeweils vier Wachleute auf dem Schulgelände unterwegs, wie ein Sprecher der Stadt berichtete. Nach knapp drei Monaten wurde der Personaleinsatz reduziert.
Krisen-Radar
RND-Auslandsreporter Can Merey und sein Team analysieren die Entwicklung globaler Krisen im wöchentlichen Newsletter zur Sicherheitslage – immer mittwochs.
„Seitdem der Sicherheitsdienst im Einsatz ist, hat sich alles verbessert. Es werden keine Sachen mehr beschädigt, die Lage ist ruhiger geworden“, berichtete die Schulsprecherin – ihre Antworten wurden durch die Pressestelle der Stadt übermittelt. Inzwischen kommt die Schule wieder ohne Sicherheitsdienst klar. Ende Februar wurde der Einsatz beendet, wie der Stadtsprecher mitteilte. Die Lage habe sich beruhigt, sagte er.
Niedersachsen: Ordnungsdienst muss Schulgelände kontrollieren
Auch Schulen in Niedersachsen haben Probleme mit schulfremden Personen, die stören. Es kommt zu Beleidigungen, Prügeleien und Sachbeschädigungen. Nach massiven Schwierigkeiten an einer Integrierten Gesamtschule in Hannover begann Ende des vergangenen Jahres ein Einsatz des städtischen Ordnungsdienstes. „Die Fußstreife ist jeden Tag zu unterschiedlichen Zeiten rund um die Schule und auf dem Schulhof gewesen“, berichtete die Gesamtschuldirektorin der IGS Büssingweg, Isabell Lenius. Der Einsatz habe sehr geholfen, da er den Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern ein besseres Sicherheitsgefühl vermittelt habe.
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Der Direktorin zufolge werden die Herausforderungen in der Schule größer – verstärkt durch den Lehrkräftemangel, fehlendes pädagogisches Personal und fehlende Schulsozialarbeit. Auf die Frage, ob sich die Schule von der Politik ausreichend unterstützt fühle, schrieb sie Anfang Februar: „Es braucht nicht nur den Willen für Veränderung, sondern auch die deutliche Entscheidung, dass unser Bildungssystem dringend verändert werden muss.“
Zahl der Gewaltvorfälle nimmt zu
Neben Vandalismus ist auch Gewalt zunehmend ein Problem an Schulen in Niedersachsen und Bremen. Die Zahl der polizeilich erfassten Gewaltvorfälle ist im vergangenen Jahr in beiden Bundesländern gestiegen, wie Recherchen der Deutschen Presse-Agentur ergaben. „Für das Jahr 2023 ist eine Zunahme der Fälle mit Opfern im Schulkontext im mittleren dreistelligen Bereich festzustellen“, teilte das niedersächsische Landeskriminalamt auf Nachfrage mit.
Demnach wurden deutlich mehr Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte Opfer einer Straftat als im Vorjahr. Die Gesamtzahl der Opfer im Schulkontext kletterte von rund 2630 im Jahr 2022 auf etwa 3270 im Jahr 2023. Darunter waren rund 1110 Schülerinnen und Schüler sowie knapp 150 Lehrkräfte. Welchen Gruppen die anderen Opfer angehörten, wurde nicht genannt. Es könnten Schulbeschäftigte wie Hausmeister sein oder andere Personen, die weder Schüler noch Lehrkraft sind, erklärte ein Sprecher des Landeskriminalamtes.
RND/mit dpa