Wer die Entwicklungen auf dem ukrainischen Schlachtfeld und im politischen Kiew verfolgt, muss die enormen Probleme der Ukraine zur Kenntnis nehmen. Es läuft nicht gut. An verschiedenen Frontabschnitten agieren die russischen Streitkräfte in der Ukraine zunehmend erfolgreich.
Nach langer Stagnation machen sie kleine, aber schnelle Fortschritte. Die ukrainischen Verteidigungslinien sind darauf nicht gut vorbereitet. Irreführende Debatten über einen vollständigen Sieg haben sowohl die Ukraine als auch ihre westlichen Verbündeten von dem abgelenkt, was eigentlich oberste Priorität haben sollte: die konsequente Stärkung der Verteidigung und die langfristige Vorbereitung erfolgreicher Offensivoperationen. Stattdessen verstärken kaum ausgebaute Schützengräben, schwindende Munitionsbestände und abnehmende westliche Hilfe den Eindruck, dass der tapfere Widerstand der Ukraine zusammenbrechen könnte.
Streit auf offener Bühne
Kommt im Westen Panik auf? Die Bemerkungen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu einem potenziellen Einsatz von Nato-Bodentruppen in der Ukraine waren das erste große Warnzeichen. Inzwischen gibt es zwischen Deutschland, Frankreich und England im Kontext der Taurus-Debatte Streit auf offener Bühne.
Deutsche politische und mediale Akteure nutzen die Auseinandersetzung zu ihren individuellen beziehungswiese parteilichen Zwecken. Die Abhöraffäre der Luftwaffenführung gießt weiteres Öl ins Feuer. Putin darf sich freuen. So funktioniert hybrider Krieg.
Entscheidender Fehler: Keine Strategie
Der Westen unterstützt die Ukraine bislang mit großen Worten und kleinen Taten. Jetzt braucht er einen Plan B für den Fall, dass die Ukraine der unablässigen russischen Angriffswucht nicht mehr standhalten kann. Doch der Westen hat keinen Plan B. Er hatte ja noch nicht einmal einen soliden Plan A.
Jetzt rächt sich der Mangel an Strategie und Kongruenz der Ziele der unterschiedlichen Parteien an der Seite der Ukraine. Die USA, die Briten und einige andere wollen Russland schwächen. Große Teile der EU wollen die Verteidigung der Ukraine stärken – manche davon sehr energisch, andere eher zögerlich. Die USA und Deutschland wollen einen direkten, großen Konflikt mit Russland vermeiden. Andere Staaten schließen inzwischen selbst eine Truppenentsendung in die Ukraine nicht mehr aus.
Das Ergebnis ist ein Hand-in-den-Mund-Vorgehen. Der Westen trifft seine Entscheidungen zur Unterstützung der Ukraine nicht entlang einer großen, durchdachten Linie, sondern immer wieder neu von Tag für Tag. Das hat dazu geführt, dass die Ukraine jetzt mit zu wenig Munition, einem fragmentierten Mix an Waffensystemen und ohne eine leistungsfähige Kriegswirtschaft kämpft. Der Westen hat bislang nur geringfügig an der erhöhten Leistungsfähigkeit seiner rüstungsindustriellen Basis gearbeitet. Hat man damit implizit eine strategische Entscheidung getroffen? Ist nicht mehr drin zur Unterstützung der Ukraine? Und wie steht es mit der eigenen Verteidigungsfähigkeit?
Verteidigung am unteren Limit
Während wir in den letzten Wochen von einer gestiegenen Wahrscheinlichkeit eines russischen Angriffs auf Nato-Gebiet hören, müssen sich die Europäer darauf einrichten, Westeuropa zur Not auch ohne große US-amerikanische Unterstützung zu verteidigen. Aber auch darauf sind wir nicht vorbereitet. Nicht nur der Zustand der Bundeswehr ist beklagenswert. Die Munitionslager sind leer. Die Truppe ist auf eine kleine Berufsarmee ohne Fähigkeit zu einem signifikanten Aufwuchs durch Reservisten geschrumpft und steht damit in guter Gesellschaft mit den Briten. Die haben den kleinsten Truppenumfang seit 1714.
Bauliche Voraussetzungen für eine grenznahe Verteidigung existieren nicht. Bürokratische Hürden und rechtliche Auflagen aus besseren Zeiten schränken Handlungsoptionen für einen zügigen Aufwuchs signifikant ein. Industriell wurden die Produktionskapazitäten in der europäischen Rüstungsindustrie auf Einzelfertigung heruntergefahren. Ersatzteillager sind weder in den Streitkräften noch in der Industrie prall gefüllt. Inzwischen sind auch die Versorgungsketten gefährdet.
Mit Blick auf hohe Lagerkosten werden in der westlichen Welt umfangreiche Baugruppen und Bauteile von Rüstungsgütern aus asiatischer Herstellung in-time bezogen. Der drohende Konflikt der USA mit China um Taiwan kann hier zu einschneidenden Unterbrechungen der Versorgungsketten führen, mit dramatischer Auswirkung auf die Produktion neuer Waffensysteme und Munition.
„All in“ bedeutet eine Entscheidung für Krieg mit Russland
Zugleich häufen sich die Rufe nach einem „All in“ seitens des Westens. „All in“ heißt nicht nur mehr Druck auf die russischen Linien in der Ukraine. „All in“ heißt auch, dass sich der Krieg nach Westeuropa ausweiten kann. „All in“ heißt gegebenenfalls Leid, Verwundung und Tod für die eigenen Soldatinnen und Soldaten, bedeutet Zerstörung, Leid und Tod für die Menschen in der Heimat. Aber Krieg ist kein Computerspiel. Es gibt keine Reset-Taste. Sind erst einmal Nato-Truppen in der Ukraine, gibt es kaum noch einen Weg zurück. Wie soll dies ein deutscher Bundeskanzler verantworten?
Rüsten und verhandeln
Das Gebot der Stunde heißt deshalb: Rüsten und verhandeln. Eine übergreifende Strategie sollte jetzt zu schnellen Verbesserungen der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine aber auch der Mitgliedsstaaten von Nato und EU führen und für den schlimmsten Fall einer Niederlage der Ukraine, aber auch für einen etwaigen Rückzug der USA gerüstet zu sein. In der Europäischen Union muss man sich diesbezüglich eine entschiedene deutsch-französische Führung wünschen, gefolgt von einem entschlossenen Vorangehen.
Mit Blick auf Augenmaß und Verantwortung sollte endlich auch das diplomatische Portfolio für eine Konfliktbeendigung deutlich energischer als bisher genutzt werden. Empörung allein wird den Konflikt nicht beenden. Verhandlungen müssen vielmehr zu einer zweiten Säule einer zielführenden Strategie werden. Die derzeitig mangelhafte Bereitschaft auch des Westens zu Dialog, Zusammenarbeit und Entspannung ist absolut kontraproduktiv. Sie trägt maßgeblich zur Eskalation des Krieges bei.