Schon wieder heißt es, Transnistrien suche Schutz bei Russland. Das war auch schon letztes Jahr so, gefolgt ist daraus aber nichts.
Wenn ich eines gelernt habe in den vergangenen zwei Jahren, dann, dass leider vieles möglich ist, das ich niemals für möglich gehalten hätte. Den russischen Überfall auf die gesamte Ukraine zum Beispiel, und auch den 7. Oktober in Israel, um nur zwei Beispiele zu nennen. Aber nur weil sich der Schrecken schon einmal gezeigt hat, heißt das nicht, dass jede Kleinigkeit zu einer riesigen Bedrohung hochstilisiert werden muss.
In der letzten Woche bekam ich diesen Eindruck, als ich Nachrichten darüber las, dass Transnistrien, die russisch geprägte Separatistenregion in der Republik Moldau, angeblich einen Anschluss an die Russische Föderation fordern würde. Es gab, so fair muss ich sein, abwägende Stimmen dazu. Und wiederum andere, die sich sehr sicher waren: Die nächste Eskalation steht kurz bevor.
Vor fast genau einem Jahr schrieb ich in dieser Kolumne über eine angebliche geplante Provokation in Transnistrien. Gerüchte machten sich damals breit, wonach Kyjiw eine False Flag Operation, die man als russischen Angriff inszenieren wolle, planen sollte. Nun, Gerüchte sind eben Gerüchte, keine Fakten. Es kam nie zu dieser Eskalation, sehr bald konnte sie als russische Desinformation enttarnt werden.
Ich fühle mich in einer Dauerschleife gefangen: Denn ebenfalls damals warnte ich davor, solche Gerüchte ohne ausreichend Kontext (oder Expertise) zu einer großen Bedrohung aufzubauschen. Nicht, dass das kleine Moldau auf seinem Weg Richtung EU nicht bedroht ist. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen realer Bedrohung und platter Angstmacherei. Der Grat dazwischen ist schmal.
Zurück ins Heute: Die Meldung über den angeblichen bevorstehenden Anschluss an Russland hatte vergangene Woche der transnistrische „Oppositionspolitiker“ Ghenadie Ciorba in die Welt gesetzt – und damit zu Teilen eine Hysterie ausgelöst.
Vieles ist möglich, selbst das Undenkbare
Wovor Ciorba gewarnt hatte, ist nicht eingetreten. Aber: Abgeordnete Transnistriens stimmten einem Antrag zu, der sich wie ein einziger Appell liest. Appelliert wird an Russland, an die OSZE, die EU und die UN. Moldau verletze die Rechte und Freiheit transnistrischer Bürger, heißt es darin, und das europäische Parlament wird deshalb aufgefordert, Druck auszuüben auf Moldau. Von Russland fordern die Abgeordneten „Schutz“ vor dem „Druck aus Moldau“. Wie dieser Schutz durchgesetzt werden soll, ob militärisch oder diplomatisch, das bleibt offen.
Druck aus Moldau, das klingt hart. Wäre die Führung der Scheinrepublik ehrlich, müsste sie aber sagen: Es geht uns seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine miserabel. Die Wirtschaft ist eingebrochen, weil die Grenze zur Ukraine dicht ist und wir dadurch weder importieren noch exportieren können. Danke für nichts an den Bruderstaat! Aber wer Ehrlichkeit von einer kriminellen Oligarchenvereinigung verlangt, die ideologisch und finanziell an Russland hängt, kann natürlich lange warten.
Russlands Präsident Wladimir Putin ging in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation am Donnerstag nicht auf Transnistriens Wunsch ein. Transnistrien bleibt also vorerst Transnistrien auf dem Gebiet der Republik Moldau. Ein Einfallstor bleibt leider: Wer vage um „Schutz“ bittet, lässt Russland offen, wann und wie es auf die Bitte reagiert. Wie wahrscheinlich ein russisches Eingreifen ist? Vieles ist möglich, selbst das Undenkbare.
Wenn die Hysterie der letzten Woche etwas Gutes hatte, dann, dass wieder Aufmerksamkeit auf der Region liegt – ich hoffe, für länger. Ende des Jahres stehen in Moldau Präsidentschaftswahlen an. Und Russland will die amtierende pro-westliche Präsidentin Maia Sandu nicht gewinnen sehen. Mit Desinformation versucht Russland, das kleine Land zu destabilisieren. Da wäre Sorge tatsächlich mal angebracht.