Ist das Kiev Stingl oder Lou Reed?

Ist das Kiev Stingl oder Lou Reed?

Foto: Archiv

Wer als Künstler tatsächlich »sein Ding« macht und sich zu Lebzeiten nicht darum schert, staatlich anerkannter Kulturbeförderer zu werden, nicht um Sichtbarkeit bemüht ist, läuft Gefahr, posthum ganz schnell vergessen werden. Dass einer, der Ausnahmeerscheinung und selbstbewusster Außenseiter war, den Leuten länger im Gedächtnis bleibt, war das Anliegen einer Veranstaltung am vergangenen Freitag zu Kiev Stingl. Kiev? Wer?

Kiev Stingl, geboren als Gerd Stingl 1943 im damaligen Sudetenland, machte fünf Alben, darunter das Meisterwerk »Hart wie Mozart«, veröffentlichte Lyrik und Kunstprosa in Verlagen, die es nicht mehr gibt, nahm die Neue Deutsche Welle vorweg, galt manchen als deutsche Antwort auf Lou Reed, schrieb Texte zwischen Beat, surrealer Überhöhung seiner Person, deutschester Romantik mit einem so selbstverständlichen Ernst und undeutscher Coolness, dass die meiste Kritik daran nur kleinlich wirkte. »Ich könnte nicht einfach schreiben, was mich nicht selbst entzückt.« Er sorgte für die zeitweise Kündigung von Journalisten, die ihn live ins Studio brachten; kämpfte an gegen die »Herrschaft des Mittelmaßes«; seine einzige Tournee 1980 war ein Desaster; die vergangenen 30 Jahre war er mehr oder weniger verschwunden. »Wer beklagt die Anwesenden? Wer lobt die Toten?«, dichtete er.  

In der Schankwirtschaft Laidak in Berlin-Neukölln fand vergangenen Freitag ein Abend in Gedenken an Kiev Stingl statt: Es wäre sein 81. Geburtstag gewesen. Gestorben ist er am 20. Februar dieses Jahres. Maximilian Schäffer, der auch für diese Zeitung schreibt, hat mit einigen anderen Leuten Stingl in den letzten Jahren gepflegt, für das Jubiläum Material gesammelt, ehemalige Weggefährten zusammengetrommelt. Es war intergenerationell und rappelvoll im Laidak. Mark Chung war da, ehemaliger Bassist der Einstürzenden Neubauten; der deutsch-kanadische Bildhauer Zoyt, 50 Jahre mit Stingl befreundet, spielte Akkordeon für den Toten. Rex Joßwig, Sänger von Herbst in Peking, musste kurzfristig absagen, sodass Schäffer mehr (sehr gut) vortragen musste als geplant. Etwa aus der Autobiografie Achim Reichels, der erfolgreiche Hamburger Produzent, der Stingl entdeckte, aber nicht zähmte. FX Schröder, Hamburgs wichtigster Mandoline-Spieler, kam vorbei und erinnerte daran, dass es in den 70ern so eine »Stakkato-Musik« wie bei Kiev einfach noch nicht gab. Der Hamburger Underground-Dichter Daniel Dubbe hatte Romane geschickt, in denen es um Kiev Stingl unter anderem Namen ging.

Stingl wuchs in Hamburg auf und zog 1985 nach Berlin. In der Hauptstadt war er trocken, ging selten aus. Hamburg, Hamburg, Hamburg. Die alte bräsige BRD war die Gesellschaft, die er nicht leiden konnte; in der sich aber freiwillige wie unfreiwillige Außenseiter erkannten und es miteinander aushielten, etwa im »Ballhaus Barmbek«, Anlegestelle einsamer Herzen im gleichnamigen Film von Christel Buschmann, in dem Kiev Stingl unter anderem mit Nico auftritt. Ein paar Minuten wurden gezeigt. Alexandra Beilharz vom Flur-Verlag las aus seinen allerletzten zu Lebzeiten abgesegneten Texten »Mein Collier um deinen Arm«. Niklas David von der Gruppe Audiac saß in einer Ecke – er hatte Stingls letztes Album »X R I NUIT« produziert. Der Regisseur Kolja Nixdorf war da. Er hatte Stingls Buch »Die besoffene Schlägerei« vor 40 Jahren verlegt. In der zweiten Hälfte des Abends lief die Dokumenation »No Erklaerungen«, die das Regie-Duo M. A. Littler und D. H. Ottn über Stingl gedreht hatten und in der er selbst in einem langen Interview erklärt, wie er sich von allen Ideologien freimachte. Es war ein schönes, lebendiges Gedenken und Weiterreden über einen, der es vorzog, die penetrante Öffentlichkeit mit Schweigen zu strafen.

Eine Begegnung vielleicht in der Hoffnung, dass sich ein Zitat von Stingl bewahrheitet: »Der Tod ist nur ein Trick.«

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