Als Wirtschaftsminister Robert Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke sich in der vergangenen Woche vor den jeweiligen Bundestagsausschüssen stellten, gaben sich die beiden Grünen-Politiker entspannt. Am Tag zuvor hatte die Enthüllung der Atomkraft-Akten von „Cicero“ für Ärger bei der Opposition und in Teilen der Koalition gesorgt. Zumindest vorübergehend konnten Habeck und Lemke die Wogen glätten, indem sie den Abgeordneten volle Transparenz über die Vorgänge rund um die Entscheidung über eine mögliche Akw-Laufzeitverlängerung versprachen.
Offenbar wurde dieses Versprechen aber nur teilweise eingehalten. Wie FOCUS online aus Kreisen der Unionsfraktion erfuhr, bemühe sich Lemkes Umweltministerium zwar um Transparenz, bei Habecks Wirtschaftsministerium sei das aber weniger der Fall. So soll ein Mail-Austausch , den „Cicero“ nun in einem weiteren Text zu den Akw-Akten öffentlich gemacht hat, nicht Teil der im Ausschuss vorgelegten Dokumente gewesen sein.
Den Mails zufolge würgte ein Abteilungsleiter im Wirtschaftsministerium den Vorschlag eines Fachbeamten ab, neue Brennelemente in Frankreich zu besorgen. So hätte ein Akw-Weiterbetrieb möglicherweise ohne lange Wartezeiten organisiert werden können. Der Vorgang, der nun von „Cicero“ ans Licht gebracht wurde, wäre sicher auch für die um Aufklärung bemühte Opposition interessant gewesen.
Im Video: Neue „Cicero“-Enthüllung aus Atom-Akten: Fachbeamter wurde per E-Mail gestoppt
Wären Akw-Betreiber zu einer Laufzeitverlängerung bereit gewesen?
Weitere Fragen wirft indes ein Vermerk vom 9. Februar 2022 auf, der auch Thema in der Ausschusssitzung vergangene Woche war. Das Dokument, das FOCUS online vorliegt, wurde noch vor Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine verfasst. Eine mögliche Energiekrise war zu diesem Zeitpunkt noch nicht akut, hätte aber absehbar sein können, weil sich Hinweise auf einen bevorstehenden Einmarsch verdichteten. In den Unterlagen werden vor allem Hürden einer Laufzeitverlängerung dargestellt.
So heißt es darin, dass die Betreiberinnen der letzten drei Kernkraftwerke sich mehrfach öffentlich so geäußert hätten, dass sie zur Entscheidung zum Atomausstieg stünden. Die Betreiber der Atomkraftwerke Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 hätten öffentlich keine Zweifel daran gelassen, dass sie die Anlagen nicht weiter über das angepeilte Ausstiegsdatum hinaus betreiben würden.
Das ist zwar grundsätzlich korrekt. Doch so eindeutig wie von der Abteilung S im Umweltministerium – zuständig für nukleare Sicherheit und Strahlenschutz – dargestellt, ist der Sachverhalt nicht.
„Weiterbetrieb wäre technisch möglich gewesen“
PreussenElektra war der Betreiber von Isar 2, eines der drei noch laufenden Atomkraftwerke im Jahr 2022. Auf Anfrage von FOCUS online teilt eine Unternehmenssprecherin mit, dass man sich zwar vor Kriegsausbruch auf die Gesetzeslage – also das Ende des Kraftwerksbetriebes – eingestellt habe. „Fakt war aber auch, dass ein Weiterbetrieb von Isar 2 technisch möglich gewesen wäre.“ Also auch schon zu dem Zeitpunkt, als der Vermerk geschrieben wurde.
Diese Haltung habe man nach Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine der Bundesregierung erläutert. Das Tochterunternehmen des Energiekonzerns E.on schloss sich unter anderem einem Brief des Branchenverbands Kerntechnik Deutschland an Bundeskanzler Olaf Scholz an. Darin appellierten die Atomlobbyisten, die Bundesregierung möge ihre Position überdenken und sich auf eine Notsituation „bei der Energieversorgung unseres Landes“ vorbereiten.
Mehrheit konnte sich schon vor Kriegsbeginn eine Laufzeitverlängerung vorstellen
Des Weiteren heißt es in dem Vermerk vom 9. Februar 2022, dass in der Gesellschaft kein Wille zur Weiterführung der Atomkraftnutzung erkennbar sei. Die öffentliche Meinung ist zwar volatil – wie sie zum Zeitpunkt aussah, als der Vermerk verfasst wurde, ist unklar.
Aber das Umweltministerium hätte zumindest Gegenteiliges aus den Vormonaten finden können, wenn es gewollt hätte: Im Oktober 2021 veröffentlichte „Welt am Sonntag“ eine repräsentative Umfrage von YouGov, wonach sich rund die Hälfte der Befragten für eine Laufzeitverlängerung aussprach. Hingegen nur 36 Prozent waren für die Abschaltung der Akw. Außerdem begrüßten damals 44 Prozent sogar einen Neubau von Reaktoren. Ein ähnliches Bild zeigte sich im Dezember 2021 in einer weiteren YouGov-Umfrage.
Die umweltpolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Anja Weisgerber, sieht hinter dem Vermerk wegen einer einseitigen Sichtweise das Motto „Verhindern statt Ermöglichen“: „Dadurch erhärtet sich der Verdacht, dass seinerzeit nicht wie öffentlich behauptet eine Laufzeitverlängerung ergebnisoffen geprüft wurde. Es ging vielmehr darum, mit allen Mitteln eine Diskussion bereits im Keim zu ersticken“, sagte sie FOCUS online.
Weisgerber und ihre Fraktionskollegen sehen noch viel Aufklärungsbedarf. Sie haben deshalb einen umfangreichen Fragenkatalog an die Bundesregierung geschickt.