Focus Online: Sie machen sich für eine andere Darstellung des Alterns stark. Positiv, strahlend soll das Altersbild sein, haben Sie einmal in einem Interview gesagt.
Henning Scherf: Ja, das Alter sollte eine Zeit sein, auf die man sich freuen kann.
Wie kommen Sie zu dieser Sichtweise?
Scherf: Das hat früh angefangen. Ich bin mit sechs Geschwistern aufgewachsen, mein Vater war im Gefängnis, die Mutter mit Typhus im Krankenhaus, wir Kinder sind mit der Großmutter durch den Krieg gekommen. Mein positives Altersbild hängt bestimmt mit ihr zusammen. Meine Großmutter hatte eine riesige Lebensfreude, ein riesiges Herz für uns Kinder, sie hat uns alles gegeben, was sie hatte. Wir haben sie bis zum Schluss begleitet. Ich war 15, als sie gestorben ist. Ich erinnere mich noch genau an die letzten Tage und vor allem an den letzten Moment, als sie im Sterbebett lag. Dieser Moment hat mich geprägt.
Erzählen Sie.
Scherf: Die Großmutter war sehr schwach, sehr schläfrig, immer nur für kurze Zeit bei Bewusstsein. Wir haben sie viel in den Arm genommen. Als sie zum letzten Mal zu sich kam, sagte sie: „Mit euch, das war das Schönste in meinem Leben.“ Dann ist sie gestorben. An Großmutters Worte habe ich immer wieder angeknüpft. Als meine Frau und ich in der Studentenzeit in Wohngemeinschaften lebten, als wir selbst Kinder hatten, als wir mit den Eltern und Schwiegereltern das Älterwerden „geübt“ haben, und auch als ich dann als Sozialsenator viel in Alten- und Pflegeeinrichtungen unterwegs war. Vielleicht wie gesagt durch meine Großmutter mit diesem etwas anderen Blick. Man kann darüber lamentieren, was alles nicht mehr geht, wenn man älter wird, was man inzwischen nicht mehr kann. Oder man kann sich freuen über das, was noch möglich ist.
Wenn Sie sagen, dass Sie sich auf das Alter freuen wollen, dann denken Sie sicher auch an Ihre ganz besondere Art zu wohnen, oder? Die „Senioren-WG“, in der Sie leben…
Scherf: … die aber eigentlich keine Senioren-WG ist, wir sind ja schon mit Mitte 40 eingezogen…
Das Gemeinschaftswohnprojekt ist jedenfalls recht prominent, war mehrfach in den Medien. Was gab den Anstoß dafür?
Scherf: Tatsächlich die Überlegung „Wie wollen wir alt werden?“ 1988 haben meine Frau und ich uns mit zehn Freunden zusammengetan und ein schönes Stadthaus gekaut. Wir haben es gemeinsam renoviert, umgebaut und sind eingezogen. Hier leben wir bis heute und erleben die Vorzüge des gemeinsamen Altwerdens. Das schließt auch die Sterbebegleitung mit ein. Vier von uns leben nicht mehr. Aber es sind im Laufe der Jahre auch einige Neue hinzugekommen.
Wie viele sind Sie?
Scherf: Im Moment zu acht. Alle Mitte 80 und älter. Aber wissen Sie, was? In 14 Tagen zieht unsere älteste Tochter hier ein. Sie ist Ärztin, jetzt im Ruhestand. Es berührt uns, dass sie ihre alten Eltern nicht allein lassen will. Irgendwie kann ich es kaum glauben: Unsere Kinder sind jetzt also auch schon alt – oder zumindest älter.
1988, beim Kauf des Hauses, waren Sie gerade mal Mitte 40. Das ist reichlich früh für eine konkrete Planung des Altwerdens. Die meisten scheinen das Thema in dieser Lebensphase eher von sich wegzuschieben.
Scherf: Wir haben früh geheiratet, sind früh Eltern geworden. Dadurch hat sich bei uns manches vielleicht ein bisschen anders entwickelt. Als die kinderlose Zeit kam, waren wir noch vergleichsweise jung. Wenn die Kinder aus dem Haus gehen, fängt ein neues Kapitel an. Das kann doch nicht alles gewesen sein, denkt man sich. Vorher kommt man nicht auf solche Gedanken, man ist viel zu beschäftigt.
Ist die späte Elternschaft eine ausreichende Erklärung dafür, dass sich die Menschen lange nicht mit dem Altwerden auseinandersetzen? Das Alter hat in unserer Gesellschaft nicht das beste Image. Ist da nicht auch viel Verdrängung im Spiel?
Scherf: Sicher, aber in meiner Wahrnehmung wird das zum Glück weniger. Immer mehr ältere Menschen sehen sich als aktiver Teil der Zivilgesellschaft. Zu Recht. Viele von uns stehen voll im Leben, sind neugierig, wissbegierig, kümmern sich, wollen geben. In Sportvereinen, ehrenamtlich, in der Nachbarschaft. Das Altern ist eine Chance, die darf man nicht verpassen. Aber es stimmt schon, es gibt auch Menschen, die vom Altern am liebsten gar nichts wissen wollen.
Weil Altwerden was für Feiglinge ist?
Scherf: Das ist nicht mein Zugang zum Thema. Alt werden ist keine Mutprobe, kein Kampf.
Sondern?
Scherf: Alt werden ist ein Geschenk! Ich würde mir wünschen, dass die 68er, die den Jugendkult und Sprüche wie „Trau keinem über 30“ in die Welt gesetzt haben, das heute auch so sehen. Ich glaube, viele tun das. Ehrlich gesagt, für mich war das mehr ein modisches Aufbegehren gegen die Alten damals. Man wollte eben anders sein. Auch meine Frau und ich gehörten dieser Generation an. Aber wie gesagt, wir waren schon Eltern. Wir wollten unser Examen machen, wollten Geld verdienen. Deshalb sind wir anders durch diese Zeit gegangen. Wohin es führt, wenn das Altern verdrängt oder gar verteufelt wird, sehen wir ja.
Was meinen Sie?
Scherf: Kein anderes Land in der Welt macht das, was wir hier in Deutschland machen. Schauen Sie nach Holland, nach Finnland, nach Österreich. Überall werden die Alten und die Pflegebedürftigen in der Nachbarschaft gehalten und gestützt. Überall gibt es zauberhafte Alternativen zum Altwerden im Pflegeheim – ein Modell, das in die Sackgasse führt, wie wir immer mehr sehen! Das kann nicht oft genug betont werden: Wir brauchen dringend Alternativen zur stationären Versorgung der Alten. Die ist bei uns ein Markt geworden, ein Geschäftsmodell. Und dieses Modell wird immer fragwürdiger. Wer hat schon die 3000 Euro im Monat übrig, die im Durchschnitt für einen Pflegeplatz benötigt werden, als Eigenanteil? Von den vielen fehlenden Pflegekräften ganz zu schweigen.
Und von der Lebensqualität im Pflegeheim vermutlich auch?
Scherf: Natürlich. Ich sprach eben von einer Sackgasse. Abstellgleis – das trifft es vielerorts auch. Dabei ist es für ein gutes Altern so wichtig, dass wir beweglich bleiben. Und neugierig wie gesagt, interessiert. Schauen Sie, ich bin gerade mit meinem 21-jährigen Enkel von einer Reise durch Nordirland zurückgekommen. Es war einfach nur toll. Das Erleben, das Entdecken, das Fragen stellen über die Generationen hinweg. Diese Art des Reisens ist für mich so viel schöner als auf einem Mittelmeerdampfer mit 3000 oder 4000 Leuten auf das nächste Essen zu warten. Wir waren zehn Tage lang von morgens bis abends unterwegs, haben Menschen getroffen, uns gegenseitig inspiriert. Ich mache so etwas mit all meinen Enkeln, mit einem nach dem anderen. Im Oktober will ich mit unserer 24-Jährigen nach New York. Alleine würde ich das nicht mehr machen, ich bin schließlich nicht mehr der Jüngste.
Sie werden 86.
Scherf: Ja, das stimmt. Aber mit meiner Enkelin an meiner Seite… da fühle ich mich höchstens wie 60. Für den Sommer plane ich Wattwanderungen mit unseren jüngsten Enkeln, die sind fünf und sechs Jahre alt. Die lieben das Watt. Und sie lieben es, was mit dem Opa zu machen und sagen das auch – das sind keine höflichen Floskeln, so etwas spürt man. Auch ich freue mich schon jetzt wie verrückt darauf, gemeinsam durch den schmatzenden Sand zu waten, mit nackten Füßen, diese Begeisterung des Miteinanders zu erleben, auf allen Seiten. Es gibt nichts Schöneres!
Wie geht es Ihnen, wenn sie hören, dass sehr viele alte Menschen in Deutschland schrecklich einsam sind? Das sind ja dramatische Zahlen. Zwischen 9 und 22 Prozent sollen unter dem Alleinsein leiden, liest man.
Scherf: Ja, diese Einsamkeit gibt es. Viele Menschen sterben in Heimen, weil sie einsam sind, sich abgeschoben fühlen. Das darf man nicht übersehen.
Sie meinen, die Einsamkeit könnte mit ein Grund dafür sein, dass Menschen vorzeitig sterben?
Scherf: Nun, ich merke doch an mir selbst, dass es mich vitalisiert und jung hält, wenn ich in Gemeinschaft bin.
Dieses Glück ist aber nun mal nicht jedem vergönnt.
Scherf: Ich bleibe dabei: Man muss sich rechtzeitig darauf vorbereiten. Zum Beispiel, indem man Freunde an sich bindet. Da kann man ruhig auch immer wieder den ersten Schritt tun. Die Leute kommen nicht von selbst. Man muss auf sie zugehen. Warum sollte ich nicht sagen und zeigen, dass ich Interesse habe? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dadurch ein Prozess in Gang kommt. Es ist ja nicht so, dass nur die eine Seite gibt und die andere konsumiert. Das geht hin und her. Eine wunderbare Dynamik, die sich lohnt, angeschoben zu werden. Auch im hohen Alter noch. Natürlich gibt es kein Patentrezept und auch keine Garantie. Aber der Versuch ist es wert. Ich finde: Überall, wo man den Mund aufmachen kann, muss man den Alten zeigen, dass es auch anders gehen kann. Lasst euch ein, sage ich immer. Auf Nachbarschaft, auf Nähe. Das kann vor Einsamkeit schützen.
Wem sagen Sie solche Sachen und wo?
Scherf: Zum Beispiel in den verschiedenen Altengruppen, in die ich zwei bis dreimal die Woche gehe. Um vorzulesen, für Gespräche über Literatur oder um zusammen zu singen. Ich bin jedes Mal richtig beseelt, wenn ich sehe, was da entsteht und was ich zum Teil auch weitergeben kann. Selbst an Menschen, bei denen man das gar nicht erwarten würde. Ich denke zum Beispiel an solche mit Demenz. Manchmal ist es, als würde beim Gegenüber eine Tür im Kopf aufgehen.
Was genau passiert da?
Scherf: Neulich hat eine Dame, die sonst nicht mehr weiß, ob es Morgen oder Abend ist und die immerzu fragt „Kennen wir uns?“ den ganzen Osterspaziergang aus dem Faust vorgetragen. Der Beifall der Runde hat sie stolz gemacht. Oder eine andere, 97 Jahre alt und heftig dement. Wir haben das Lied „Geh aus, mein Herz und suche Freud“ gesungen. Ich kannte fünf Strophen und wollte aufhören, aber die Frau sang weiter. 15 Strophen insgesamt. Ich wusste gar nicht, dass es so viele gibt. Später habe ich recherchiert und bin auf ein Liederbuch aus dem 19. Jahrhundert gestoßen. Offenbar hat die 97-Jährige da in der Kindheit was aufgenommenen und im Kopf gestapelt. Und dann kommt das plötzlich raus, obwohl der Demenz-Kopf das eigentlich gar nicht zulässt.
Das klingt bemerkendwert.
Scherf: Ich könnte Ihnen unzählige solcher Geschichten erzählen. So etwas passiert, wenn Menschen in ihre Aufgabe gehen. Wenn sie nicht sitzen, sitzen, sitzen, bis der Pfleger kommt, für den Gang zur Toilette oder sowas. Zusammen kochen, essen, singen… Kartoffeln schälen, Gemüse putzen, stopfen… Es gibt so vieles, was alten Menschen dabei helfen kann, wieder wach zu werden. Und dann kriegen sie auf einmal Dinge hin, die man ihnen gar nicht mehr zugetraut hätte. Einfach aus dem Gefühl heraus: Ich bin nützlich.
Sie haben mal gesagt, Ihr Ziel sei es, mindestens 100 Jahre alt zu werden.
Scherf: Und das ist immer noch so. Im Moment geht es mir so, dass ich denke, die 14 Jahre bis dahin, die schaffe ich.
Sie freuen sich also immer noch aufs Älterwerden?
Scherf: Jeden Tag aufs Neue.
Herr Scherf, danke für dieses Gespräch.