In der Serie “Eine Frage der Ernährung
gibt unser Expertenrat Antworten auf Fragen, die sich viele stellen.
Diesmal wollten wir wissen: Woher kommt der Heißhunger nach dem Konsum von Alkohol oder Cannabis? 
 

ZEITmagazin ONLINE: Nach
dem Kiffen und vor allem auch nach dem Trinken von Alkohol hat man oft riesige
Lust, schnell viel zu essen. Woher kommt dieser Heißhunger?

Martin Smollich:
Es gibt im Körper vor allem zwei Regulationswege, die bestimmen, wie hungrig oder
satt wir sind. Da ist einmal eine Art Regelkreis in Bezug auf den
Energieverbrauch und -bedarf: Grob gesagt gleicht der Körper ständig ab, wie
viel Energie gerade zur Verfügung steht und wie viel Energie benötigt wird.
Wenn weniger Energie zur Verfügung steht, als benötigt wird, dann reagiert der
Körper mit einem Hungergefühl. Diese Regulation erfolgt vor allem über verschiedene
Hormone, die im Gehirn entweder ein Hungergefühl oder ein Sättigungsgefühl
auslösen können. Alkohol beeinflusst dieses Gleichgewicht: Er reduziert unter
anderem die
Bildung des Sättigungshormons Leptin
, das das Hungergefühl hemmt. In der
Folge nehmen das Sättigungsgefühl ab und der Appetit zu. Alkohol greift aber
auch direkt in der Hungerregulation im Gehirn an.

ZEITmagazin ONLINE: Was
tut Alkohol dort?

Smollich: Im
Hypothalamus – so wird ein Teil des Gehirns genannt, das unter anderem eine
zentrale Rolle bei der Appetitregulation spielt – wirkt Alkohol
ähnlich wie diejenigen Hormone, die den Appetit steigern
. Das ist doppelt problematisch: Alkohol
selbst enthält nämlich enorm viele Kalorien. Eigentlich müsste der Regelkreis
des Körpers deshalb nach der Zufuhr von Alkohol sagen, dass der Appetit gesenkt
werden kann, weil ja eine Menge Energie reingekommen ist. Aber Alkohol bringt
beides: Appetit und Energie. Man isst also unter Alkohol nicht nur mehr, man
nimmt zusätzlich auch noch die Kalorien des Alkohols zu sich.

ZEITmagazin ONLINE: Wirkt
Cannabis auf die gleiche Weise?

Smollich: Cannabinoide
selbst haben zumindest kaum Energie. Ob sie aktiv den Blutspiegel bestimmter Hormone
wie Leptin beeinflussen, ist bisher noch sehr wenig untersucht. Fest steht
aber: Cannabinoide
wirken im Hypothalamus enorm appetitsteigernd
. Das ist vermutlich der Hauptweg, über
den Cannabis zu Heißhunger führt. Aus diesem Grund werden Cannabinoide sogar in
der Medizin genutzt: Viele Tumor- und Aids-Patienten leiden unter
Appetitverlust – zur Behandlung können THC-haltige Arzneimittel, also
Cannabinoide, verordnet werden
.

ZEITmagazin ONLINE: Das
heißt, Cannabis und Alkohol lösen im Gehirn ein Gefühl von Heißhunger aus.
Bevor wir dazu kommen, wie man das verhindern kann – Sie sprachen noch von
einem anderen Weg, wie Hunger entstehen kann.

Smollich: Ja,
das ist die sogenannte hedonistische Regulation von Hunger. In unserer
westlichen Überflussgesellschaft essen die wenigsten Menschen, weil sie
wirklich Hunger haben, sondern meist aus anderen Gründen: Sehr häufig essen wir
zur sogenannten Emotionsregulation, etwa bei Trauer, Frust oder Liebeskummer.
Außerdem essen wir, weil wir in Gesellschaft sind, weil es Mittagszeit ist und
die Kollegen essen gehen, weil wir keine Lust auf eine unangenehme Aufgabe haben
oder einfach, weil es sehr lecker schmeckt. Doch diese hedonistische Regulation
von Hunger hat glücklicherweise auch einen Gegenspieler: Unsere erlernte Impulskontrolle,
eine gewisse Vernunft, die uns zum Maßhalten bewegt. Wir essen zwar gerne mal Kartoffelchips oder
andere Snacks zum Film, aber wir versuchen zugleich, maßzuhalten. Natürlich
mit unterschiedlichem Erfolg.

ZEITmagazin ONLINE: Wir
essen zwar zu Mittag in der Kantine, würden aber nicht dreimal nachnehmen, weil
das einfach seltsam wirkt?

Smollich: Genau,
hier kann das soziale Umfeld dafür sorgen, dass die Impulskontrolle gestärkt
wird. Deshalb funktionieren Diäten auch
besser zusammen mit dem Partner oder in Gruppen. Alkohol und Cannabis aber senken
bekanntermaßen diese Impulskontrolle. Wenn zum Beispiel abends im Biergarten
das Grillhähnchen gerade so gut geschmeckt hat, dann bestellen wir nach drei
Bier eher noch ein zweites Hähnchen, als wenn wir nichts trinken. Genauso
verhält es sich mit Cannabis. Wir werfen also das Maßregeln schneller und eher
über Bord und geben uns Exzessen beim Essen hin.

ZEITmagazin ONLINE: Alkohol
und Cannabis wirken also auf mehrere Arten appetitsteigernd. Wie kann man dem
entgegenwirken?

Smollich: Nun,
der einfachste und wirksamste Weg ist natürlich, so wenig wie möglich Alkohol und
Cannabis zu konsumieren. Aber das will sicher nicht jeder hören. So kann man
vor dem geplanten Konsum versuchen, den Zugang zu exzessivem Essen später zu
erschweren: Wenn man sich eine Flasche Wein kauft, um sie beim Videoabend auf
dem Sofa zu leeren, dann sollte man die Menge an Snacks, die man zu Hause hat,
begrenzen.

ZEITmagazin ONLINE: Was,
wenn man auswärts unterwegs ist, etwa bei einer Freundin oder im Restaurant?

Smollich: Dann
geht das leider nicht. Aber auch dann ist es sinnvoll, zu Hause kein Fast Food
und keine Snacks zu haben – damit man wenigstens beim Heimkommen nicht mehr in
Versuchung gerät, etwas zu essen. Aber wer bis hierher gelesen hat, hat auch
schon etwas unternommen gegen kommende Heißhungerattacken: Sie haben jetzt das
Wissen um die Risiken und die dahinter liegenden Mechanismen – und damit eine
gewisse Selbstreflexion. Der Leserin oder dem Leser ist jetzt klar, dass sie
oder er vielleicht nur wegen des Alkohols Lust auf eine zweite Hauptmahlzeit im Restaurant hat. Und sie oder er wird das nächste Mal daran denken – und
vielleicht mit diesem Wissen eher widerstehen und es bei einer Mahlzeit
belassen können.



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