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Haiti: Warum die Kriminellen in Haiti so viel Macht haben


Haitis Interims-Premierminister Ariel Henry ist nach Wochen anhaltender Bandenkämpfe zurückgetreten. Warum ist die Lage im Land so instabil? Und wie geht es jetzt weiter?



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Haiti: Der haitianische Premierminister Ariel Henry in Nairobi am 1. März 2024.
Der haitianische Premierminister Ariel Henry in Nairobi am 1. März 2024.
© Simon Maina/​AFP/​Getty Images

Haiti erlebt eine neue politische Krise. Wir beantworten wichtige Fragen zur aktuellen Situation.

Alle Fragen im Überblick:

Warum tritt Henry zurück?

Interims-Premierminister Ariel Henry hat am Montagabend (Ortszeit) in einer Videoansprache seinen Rücktritt bekannt gegeben. “Die
Regierung, die ich führe, wird unmittelbar nach der Einsetzung
eines Übergangsrates zurücktreten”, teilte Henry mit und fügte hinzu: “Ich bitte alle Haitianer, Ruhe
zu bewahren und alles zu tun, damit Frieden und Stabilität so
schnell wie möglich zurückkehren.” Die Entscheidung für diesen Schritt soll auf einem Krisentreffen der Regierungschefs karibischer Staaten in Jamaika getroffen worden sein, bei dem auch der US-Außenminister Antony Blinken teilnahm und Kanadas Premierminister Justin Trudeau zugeschaltet war. Anlass des Krisentreffens war die Zunahme der Bandengewalt in den letzten Wochen.

Der Neurologe Henry hatte 2021 das Präsidentenamt übergangsweise übernommen, mit dem Versprechen, Neuwahlen zu organisieren. Im September 2023 verschob er die Wahlen und weigerte sich auch im Februar seinen Posten zu verlassen. Das sorgte bei vielen Haitianerinnen und Haitianern für Kritik. Henry argumentierte allerdings, dass die Lage zu instabil sei. Die Bandengewalt eskalierte daraufhin weiter. Die Anführer mehrerer Banden schlossen sich zusammen und forderten Henrys Rücktritt. Sonst, so drohten sie, würde es zu einem Bürgerkrieg kommen.

Die Kriminellen legten große Teile Haitis lahm: Sie griffen unter anderem Polizeiwachen und Flughäfen an, seit
mehr als einer Woche gehen keine Flüge von und nach Haiti
mehr. Auch der Hafen in der Hauptstadt Port-au-Prince musste schließen. Frachtcontainer mit Lebensmittel können nicht weitergeleitet werden. Außerdem ließen die Kriminellen mehr als 4.500 Häftlinge aus Gefängnissen frei. Im Land gilt der Ausnahmezustand. 

Der Noch-Präsident hält sich derzeit nicht in Haiti auf. Denn die aktuelle Eskalation war mit einer Auslandsreise des 74-Jährigen nach Kenia zusammengefallen. Wegen der geschlossenen Flughäfen konnte er nicht nach Haiti zurückkehren und befindet sich aktuell in Puerto Rico. Haitis Nachbarland, die Dominikanische Republik, hatte Henry keine Landeserlaubnis erteilt. Der dominikanische Präsident Luis Abinader erklärte seinen Amtskollegen aus
Sicherheitsgründen zur Persona non grata. 

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Wie ist die aktuelle Lage in Haiti und warum ist sie so instabil?

Ariel Henry übernahm den Posten 2021 übergangsweise, nachdem im Juli der
Präsident Jovenel Moïse ermordet wurde. Der Täter wurde nie gefasst. 
Viele Banden nutzen die Ermordung Moïses, um ihren politischen Einfluss
weiter auszubauen. Die Gruppen sind stark bewaffnet, was unter anderem
an Waffenschmuggel aus den USA liegt.  

Die politische Instabilität Haitis ist auch mit seiner Geschichte zu
erklären: Seit der Unabhängigkeit des Landes von der französischen Kolonialmacht
1804 ereigneten sich zahlreiche Putsche und Putschversuche.
Auch
ausländische Interventionen führten dazu, dass sich kein stabiles
politisches System etablieren konnte.
Eine hohe Anzahl an
Naturkatastrophen, wie Erdbeben, Wirbelstürme und Dürreperioden lässt
die Armut im Land weiter wachsen, die immer wieder zu zivilen Unruhen
führt. Aktuell hat das Land weder einen Präsidenten noch ein Parlament.

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Wer sind die Banden?

Bandenkriminalität ist seit Jahren ein wachsendes Problem auf Haiti. Schätzungen zufolge werden mittlerweile rund 80 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince von Banden kontrolliert. Mehr als 300 verschiedene Gruppen soll es geben. In den letzten Wochen spielte vor allem einer eine entscheidende Rolle: Jimmy “Barbecue” Cherizier. Er ist der Anführer von “G9 an fanmi e alye” (G9-Familie und Verbündete) und derjenige, der mit dem Ausbruch eines Bürgerkriegs drohte, würde Henry nicht zurücktreten. Beobachter halten Cherizier für den mächtigsten Bandenchef im Land. Ursprünglich war Cherizier Beamter der haitianischen Nationalpolizei, heute werden ihm zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und tödlichen Angriffe auf Zivilisten in vorgeworfen. Unter anderem soll er an einem Massaker im Viertel La Saline in Port-au-Prince 2018 beteiligt gewesen sein, bei dem Dutzende Menschen starben. 2022 entschied der UN-Sicherheitsrat, Cheriziers Vermögen einzufrieren und ein Reiseverbot zu verhängen.

Cherizier selbst stellt sich in den Medien gerne als Revolutionär dar, der gegen eine ungerechte Elite kämpft. Anfang März erklärte er in einem Fernsehinterview, das Vorgehen der Banden habe das Ziel, “das Land zu bekommen, das wir wollen, ein Haiti mit Arbeit für alle,
mit Sicherheit, mit kostenloser Bildung, ein Haiti ohne soziale
Diskriminierung.”  Die hohe Korruption im Land spielt den Banden in die Hände. Teilweise kooperierten Polizeikräfte mit den Gruppen.

Allerdings gibt es auch Berichte, dass in der Bevölkerung die Wut gegen die Banden wächst. Immer wieder kommt es demnach auch zu Selbstjustiz. Anfang März etwa lynchten Zivilisten einen berüchtigten Gangsterboss und
schleiften anschließend seine Leiche durch die Straßen.

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Wie verhält sich die internationale Gemeinschaft in dem Konflikt?

International galt Henry lange Zeit als legitimer Übergangspremierminister. Viele Länder, auch die USA, unterstützen ihn auch in seinem Versuch gegen die Bandenkriminalität vorzugehen. Die internationale Gemeinschaft ist schon seit Längerem besorgt über die Gewalt. Im Oktober 2023 stimmt der UN-Sicherheitsrat der Entsendung einer internationalen Mission unter der Führung Kenias zu. Die Truppe sollte die haitianische Polizei unterstützen.

Nach den jüngsten Gewalteskalationen haben internationale Diplomaten Haiti verlassen, unter ihnen auch der deutsche Botschafter. 

Als am Wochenende die Regierungschefs mehrerer karibischer und nordamerikanischer Länder auf einem Krisentreffen berieten, nahm Henry nicht mehr teil. Im Anschluss erklärte US-Außenminister Antony Blinken, sein Land wolle den Friedensprozess in Haiti finanziell mit 100 Millionen Dollar unterstützen. Mit dem Geld solle die Entsendung multinationalen Truppen finanziert werden. Außerdem würden die Vereinigten Staaten humanitäre
Hilfe im Wert von weiteren 33 Millionen Dollar leisten. Auch der mexikanische Außenminister erklärte, sein Land habe ebenfalls einen nicht näher bezeichneten Betrag bereitgestellt. Er forderte mehr Maßnahmen zur Eindämmung des Waffenhandels nach Haiti.

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Wie geht es den Menschen in Haiti?

Haiti ist ein armes Land, die Welthungerhilfe schätzt, dass knapp die Hälfte der 11 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner unterernährt sind. Die Bandenkriminalität belastet das Leben vieler Menschen zusätzlich. Berichten zufolge vergewaltigen einige Bandenchefs Frauen und minderjährigen Mädchen, es kommt zu Folter, Gewaltverbrechen und Entführungen. In den vergangenen Wochen nahm auch die Zahl der Gewaltverbrechen gegen Zivilisten zu. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden im Januar mehr als 800 Menschen getötet, entführt oder verletzt. Damit sei der Januar der schlimmste Monat für Zivilistinnen und Zivilisten seit mehr als zwei Jahren gewesen. Um der Bandengewalt zu entkommen, haben über
362.000 Menschen ihr Zuhause verlassen, die Hälfte davon sind Kinder.

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Wie geht es jetzt weiter?

Die Karibische Gemeinschaft (CARICOM) erklärte, dass Henry durch einen Präsidentenrat ersetzt wird, der aus zwei Beobachtern und sieben stimmberechtigten Mitglieder bestehen wird. Namen sind bislang nicht bekannt. Die Gemeinschaft erklärte aber, dass die Posten der nicht stimmberechtigten Beobachter an einen Vertreter der Zivilgesellschaft und einen religiösen Früher gehen sollen. Die sieben anderen Mitglieder sollen aus der Wirtschaft und Politik kommen. Es sollen Vertreter verschiedener Parteien beteiligt werden. Inhaltlich soll das Gremium frühere Befugnisse von Henry übernehmen und per Mehrheitsentschluss entscheiden. Kernaufgabe wird jedoch die Ernennung eines neuen Interims-Präsidenten und eines Kabinetts. Außerdem soll das Gremium einen provisorischen Wahlrat einrichten und weitere Schritte für die ersten demokratischen Wahlen seit 2016 in die Wege leiten.

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