Bereits 2023 waren 16 Prozent der deutschen Industrieunternehmen aktiv dabei, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlegen. Weitere 30 Prozent arbeiteten an entsprechenden Planungen. Inzwischen sind nicht nur große Mittelständler aller Branchen vor die Wahl zwischen Insolvenz oder Auslandsproduktion gestellt, sondern es trifft auch deutsche Traditionsunternehmen wie Miele, Bayer, VW, Merck, SAP, Conti, BASF und Siemens.

Die Deindustrialisierung zeigt sich auch in anderen Zahlen: 135,5 Milliarden Euro investierten deutsche Firmen 2023 im Ausland, ausländische Unternehmen nur 10,5 Milliarden Euro in Deutschland. Fast 60 Prozent der ausländischen Unternehmen nannten die hohen deutschen Energiekosten als Grund, Fertigungsanlagen anderswo zu errichten. Diese Investitionen haben einen Planungshorizont von bis zu 20 Jahren. Die Investoren rechnen nicht damit, daß sich die energiepolitischen Rahmenbedingungen am Standort Deutschland in den kommenden Jahren verbessern werden.

Vor diesem Hintergrund haben auch die traditionell regierungsfreundlichen Lobbyvereine wie der Industrieverband BDI ihre Position revidiert. Er benennt die hohen Energiepreise als Grund für ein bestenfalls minimales Wirtschaftswachstum. Auch die „Wirtschaftsweisen“ der Bundesregierung attestierten dem Standort Deutschland anhaltende Verluste an Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere bei den energieintensiven Gütern, was der erneute Produktionsrückgang der energieintensiven Industrie um fast 20 Prozent gegenüber 2022 belegt.

Eine nicht nur volkswirtschaftlich brandgefährliche Entwicklung

Frühere Wirtschaftsminister hätten auf anhaltend schlechte Statistiken, ausbleibendes Wachstum und Kritik der Ökonomen und Verbände mit einer Kurskorrektur reagiert, aber nicht der erste grüne Ressortinhaber. Robert Habeck, der sich sogar für einen Kanzlerkandidaten hält, erklärt lieber über ihm verpflichtete Stellen, die Probleme zu hoher Energiepreise seien übertrieben. Ein Beispiel ist das Statistische Bundesamt (Destatis) und dessen halbjährliche Publikation der Strompreise. Industrieunternehmen werden dabei passend mit staatlichen Stellen zusammengefaßt.

Entwicklung der Industriestrompreise für mittlere Unternehmen seit 2016. Quelle: Destatis Grafik: JF

Für diese Gruppe wird für das zweite Halbjahr 2023 ein Durchschnittsstrompreis von 20,35 Cent pro Kilowattstunde (kWh) netto angegeben, was einem Rückgang von 1,9 Prozent gegenüber dem zweiten Halbjahr 2022, aber zugleich einem Anstieg um 22,2 Prozent gegenüber dem zweiten Halbjahr 2021 entspricht. Wichtig bei der Betrachtung sind nicht die Werte an sich, sondern die Zusammenhänge, die nicht erwähnt werden. Die ermittelten Nettostrompreise, die über dem EU-Durchschnitt liegen, waren bereits 2021 zu hoch und ein Treiber der Inflation. Diese richtige Bewertung ist nicht Aufgabe der Statistiker, wohl aber eine Arbeit mit methodisch korrekten Hinweisen. Der Nettostrompreis 2021, der als Vergleichsbasis dient, umfaßte 6,5 Cent EEG-Umlage für die Ökostromerzeuger.

Künstlich verteuern, ist die Devise Habecks

Diese wird seit Juli 2022 von allen Steuerzahlern sowie über das Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG), das Gas, Kraftstoffe, Heizöl und Kohle künstlich verteuert, gezahlt. Durch das Herausrechnen sank der Strompreis – indirekt werden die Subventionen für Solar- und Windstrom weiter gezahlt. Diese Tatsache fällt besonders ins Gewicht, wenn man berücksichtigt, daß 2021 etwa 2.200 „privilegierte“ Unternehmen mit dem höchsten Stromverbrauch ganz oder teilweise von der EEG-Umlage befreit waren.

Eine entsprechende Erläuterung findet sich in den Destatis-Meldungen nicht. Der Hinweis, daß die von Insolvenz oder Abwanderung bedrohte Industrie mit hohem Stromverbrauch gegenüber den bereits 2021 zu hohen Energiepreisen einen weiteren Anstieg von 50 Prozent statt 22,2 Prozent hat hinnehmen müssen, fehlt sowohl in der Publikation als auch in der Berichterstattung, die sich auf den leichten Rückgang gegenüber dem Vorjahr konzentriert. Die Dramatik der Lage wird allerdings erst dann ganz deutlich, wenn man neben den explodierten Stromkosten die ebenfalls stark gestiegenen Gaspreise, Netzentgelte und die CO₂-Bepreisung (BEHG) einbezieht.

Einen Hinweis auf die Lohn-Preis-Spirale als Folge der politisch gewollten Verteuerung der Energie mit dem Ergebnis überhöhter Inflationsraten zählt allerdings nicht zu den Destatis-Aufgaben, wohl aber zu denen von Verbänden und Interessenvertretern. Der BDI mit 39 Branchenverbänden oder der DIHK als Vertretung aller Industrie- und Handelskammern trauen sich nun, die Standortbedingungen und die Energiepolitik zu kritisieren. Robert Habeck hat aber weiter treue Freunde: Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) wird dominiert von den vier großen Stromversorgern und hat als stärkste Mitgliedergruppe die Stadtwerke mit ihren jeweiligen Gesellschaften für Energie- und Wassernetze.

Realität läßt sich nicht ignorieren

Die BDEW-Chefin Marie-Luise Wolff – eine anglophile Musikwissenschaftlerin und Ex-Sony-Managerin – nutzte den Spiegel für Aussagen fernab der Realität. Die Energiepreise wären auf einem Niveau vor der Krise und die Industrie würde den Standort unnötig schlechtreden. Wobei der BDEW die Auswirkungen dieses Niveaus durchaus erkennt, wenn Marie-Luise Wolff offen zugibt, daß unter diesen Bedingungen verschiedene Produktionsprozesse der Grundstoffindustrie aus Deutschland verschwinden werden. BDEW-Hauptgeschäftsführerin ist seit 2019 die langjährige Grünen-Bundestagsabgeordnete Kerstin Andreae.

Doch auch sie kann die Realität nicht ignorieren – und die BDEW-Strompreiszahlen sind bei einem genaueren Blick sogar aufschlußreicher als die von Destatis: Der Nettostrompreis ohne Abgaben/Umlagen lag 2016 bei lediglich sieben Cent pro kWh – 2023 waren es 21,6 Cent. Diese volkswirtschaftlich gefährliche Entwicklung löst aber dennoch nicht die Probleme der Ampel-Energiepolitik: Zwar sinkt mit weniger Industrie der Gesamtstromverbrauch und die sich abzeichnende Versorgungslücke durch mehr E-Mobilität und Wärmepumpen fällt geringer aus, aber durch den Wegfall des konstanten Grundverbrauchs der Industrie und das Abschalten der AKW und Kohlekraftwerke wird eine alle Schwankungen ausgleichende Netzsteuerung kaum noch möglich sein – schon gar nicht für kleine Stadtwerke in der Provinz, die den Großteil der BDEW-Mitglieder ausmachen.

JF 16/24



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