Gezeichnete Schießereien, abfotografierte Baseballcaps: Einblicke in Claytons Leben

Gezeichnete Schießereien, abfotografierte Baseballcaps: Einblicke in Claytons Leben

Foto: Golden Press

Die Bremer Golden Press hat eine Graphic Novel mit dem Titel »Clayton« veröffentlicht, die jedoch auf dem Cover »Comic-Anthologie« heißt, wohl weil mehr als ein Dutzend Zeichner*innen und Fotograf*innen mitwirkten. Der Untertitel des von Julian Voloj edierten Buches über den 1948 im kanadischen Calgary geborenen und seit 1979 in New York City lebenden Künstler Clayton Patterson lautet: »Der Pate der Lower East Side«. Diese Bezeichnung geht auf einen CNN-Moderator zurück und klingt arg nach Cosa Nostra. Deren mafiöse Sache ist die Clayton Pattersons nun überhaupt nicht. Im Gegenteil.

John Strausbaugh schrieb 2005 in der »New York Times«: »Haben Sie auf der Lower East Side oder im East Village in den letzten 25 Jahren an einer öffentlichen Versammlung teilgenommen – an einem Punkrock-Gig, einem Treffen des Community Boards, an einem Poetry Slam, einem Santería-Ritual oder an dem berüchtigten Riot am Tompkins Square im Jahre 1988 – sind die Chancen gut, dass Sie im Archiv von Clayton Patterson gelandet sind. Er war der bärenhafte Mann mit dem Ziegenbart und im Biker-Outfit, der sich unter die Menge mischte, aber nie mitmischte, und alles mit seiner Foto- oder Videokamera beobachtete …«

In seinem Buch »The Camera« (2020) schreibt Clayton Patterson, der in einem proletarischen Milieu aufwuchs: »Durch meine Kameras habe ich detaillierte Kenntnisse und unbezahlbare Einblicke in eine ganze Reihe von Kulturen und Gemeinschaften erlangt. Vom hispanischen Straßenleben auf der Lower East Side bis zu den orthodoxen Juden dort. Von Drag-Performern bis zu Tätowierungskünstlern. Von der Mode und der Celebrity Culture bis zu den Obdachlosen und den Ausgestoßenen. Von der Avantgarde bis zum Alltag usw.« Im Magazin »The New Yorker« wurde Patterson als »Alltagshistoriker der Lower East Side« bezeichnet, und als er sich vor zehn Jahren mit dem Gedanken trug, New York City Richtung Salzkammergut zu verlassen, markierte dies für die »New York Times« das Ende einer Ära, »den Abgang des letzten Bohemiens von Manhattan«. Doch Patterson blieb weiterhin in der Essex Street wohnen, in dem einst runtergekommenen Haus, das er 1983 mit Elsa Rensaa auf Kredit gekauft hatte, seiner Lebensgefährtin seit 1972.

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Dem kommerziellen Mainstream der Kunst, in dem das Künstlerpaar leicht hätte Erfolg haben können, kehrten sie den Rücken. Sie hassten die elitäre Kunstszene Sohos. Ab Mitte der 1980er stellten die beiden nicht nur die Werke in New York wirkender Künstler*innen und Autor*innen sowie von Persönlichkeiten aus ihrem Viertel aus, die mit dem Kunstmarkt ebenfalls nichts am Hut hatten, sondern produzierten auch »Clayton Hats« genannte Baseballcaps, u. a. auch für bekannte Künstler wie Jim Dine und David Hockney, für Mick Jagger sowie für Hollywoodstars wie etwa Matt Dillon, Rob Reiner und Gus Van Sant. Im Magazin »GQ« wurde der »Clayton Hat« als eine der zwei besten Baseballcaps »made in the US of A« gepriesen.

Das Geld, das sie mit diesen Kappen verdienten, verwendeten sie für die Erstellung des Clayton Archives, einer Sammlung von Fotos, Videos, Kunstwerken, Büchern, Zeitungsausschnitten, Flugblättern, Plakaten und Ephemera der Lower East Side, einschließlich alter Herointütchen, für die jeder Dealer sein eigenes Logo hatte. Zur Sammlung gehört auch die im Buch zu sehende Gang-Jacke von Cochise, einem Mitglied der »Satans Sinners«. Dieser hat einige Jahre wegen zweifachen Mordversuchs eingesessen, weil er zwei Gangmitglieder, die bei den Sinners aussteigen wollten, kurzerhand in den East River geworfen hatte. Nach seinem Knastaufenthalt fand er dank Patterson zur Kunst.

Als Patterson Tätowierungen fotografieren wollte, gründete er mit Ari Roussimoff, einem russischen Maler und Filmemacher, 1986 die Tattoo Society of New York. Diese trug maßgeblich dazu bei, dass das in New York geltende Tätowierungsverbot aufgehoben wurde. Das sprach sich herum und Patterson wurde mehrfach nach Österreich zur Wildstyle-Tattoo-Messe eingeladen und dokumentierte deren Entwicklung.

Patterson veröffentlichte Bücher über die Lower East Side, wie etwa »Resistance: A Radical Social and Political History of the Lower East Side«(2007) und »Jews: A People’s History of the Lower East Side« (2011). Er ist zudem verantwortlich für die Vergabe der N.Y. Acker Awards, mit denen experimentelle und »Outlaw«-Künstler und -Aktivisten geehrt werden.

Seit 1999 leitete Patterson zusammen mit dem im Juni 2023 gestorbenen deutschen Künstler Dietmar Kirves die NO!art-Bewegung. Diese radikale Avantgarde-Bewegung nahm 1959 in New York ihren Anfang, organisiert von Sam Goodman, Stanley Fisher und dem Holocaustüberlebenden Boris Lurie (1924–2008). Der Kunstkritiker Harald Rosenberg schrieb, die NO!art reflektiere den Mix aus Abschaum und Verbrechen, mit dem die Massenmedien die Gemüter unserer Zeit überfluten. Patterson lernte den 1924 in Leningrad geborenen Boris Lurie bei einer Filmvorführung kennen. Lurie kam mit seinem Vater 1946 nach New York und nutzte die Kunst, um seine Traumata zu verarbeiten. Er wird im Buch mit den Worten zitiert: »Es geht um unverfrorene Selbstdarstellung, die zu sozialem Handeln führt.«

In Clayton wird das Leben Pattersons, dieses Archivars aller Dinge der Lower East Side, liebevoll dargestellt und en passant erwähnt, dass sich der chinesische Künstler Ai Weiwei von Patterson, den er während der Tompkins Square Riots kennenlernte, inspirieren ließ. Auf den Innenseiten des Covers findet sich zudem eine Auswahl der Porträtfotos von Patterson, der seinen deutschen Freunden die Existenz dieses Buches in aller Bescheidenheit verschwieg.

Julian Voloj (Hg.): Clayton. Der Pate der Lower East Side. Eine Comic-Anthologie mit Flexi-Schallplatte von Mario Hyman. Golden Press, geb., 112 S., 28€

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