Die Tuschkastensiedlung im Berliner Ortsteil Bohnsdorf ist nach dem Prinzip der Gartenstädte gebaut, das auch dem ehemaligen AOK-Direktor Albert Kohns als ideales Wohnen galt.

Die Tuschkastensiedlung im Berliner Ortsteil Bohnsdorf ist nach dem Prinzip der Gartenstädte gebaut, das auch dem ehemaligen AOK-Direktor Albert Kohns als ideales Wohnen galt.

Foto: imago/Sven Lambert

Jede Wohnung soll mit Bad und WC, Balkon, Loggia oder Terrasse ausgestattet sein. Jede Wohnung soll Licht und Luft von beiden Seiten des Wohnhauses erhalten. Dieser Anspruch an Hygiene und Gesundheitsförderung, der bei jedem architektonischen Entwurf von Wohnhäusern zu beachten sei, wurde von den berühmtesten Architekten zu Beginn des 20. Jahrhunderts begeistert aufgenommen und verwirklicht: Ernst May mit dem Neuen Frankfurt, Fritz Schumacher mit seinen Siedlungen in Hamburg, Gustav Oelsner in Altona, Walter Gropius und Hannes Meyer in Dessau, Ludwig Mies van der Rohe, Le Corbusier und vor allem Martin Wagner und Bruno Taut mit der Gemeinnützigen Heimstätten AG (GEHAG) in Berlin. Die Siedlungen der Berliner Moderne sind wegen ihrer Qualitäten seit 2008 ins Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen.

Wohnungen, die die Gesundheit der Bevölkerung erhalten, sind heute dank des Wirkens der AOK und Albert Kohns, ihres einflussreichen Direktors von 1914 bis 1925, die Regel. Über das zweite Anliegen des »Neuen Bauens« – die Anzahl benötigter, bezahlbarer, vielleicht auch wieder gemeinnütziger Wohnungen zu erhöhen – wird weiterhin munter gestritten. Gegenwärtig wird die Zahl von 400 000 jährlich zu errichtender Wohnungen herbeigewünscht. Das Bündnis »Soziales Wohnen« bezifferte am 16. Januar 2024 den Fehlbestand auf 910 000 Wohnungen. Selbst im späten Kaiserreich fehlten nur 700 000 Wohnungen. Und im Jahr 1926 errichteten allein die freien Bauhütten, die GAGFAH, die GEHAG, die freien Baugenossenschaften und andere sogar 270 000 neue Wohnungen, mehr als selbst während des sogenannten Wirtschaftswunders der jungen Bundesrepublik.

Bautechnische Katastrophe

Bereits zehn Jahre vor diesem Bauhöchststand erklärte das Zentralorgan der AOK, die Zeitschrift »Ortskrankenkasse«, es sei »Aufgabe der Krankenkassen, Öffentlichkeitsarbeit und Gewährung von finanziellen Beihilfen an Siedlungsunternehmen und Siedler zu gewähren, sowie Zinsgarantien zu erteilen«, um so den Bau gesundheitsfördernder Wohnungen zu ermöglichen. Im gleichen Sinn äußert sich Direktor Albert Kohn auf der Krankenkassenkonferenz im November 1916 in der neuen Philharmonie in Berlin.

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Zu den damals bestehenden Wohnungen der Kaiserzeit erklärte der Zeichner und Maler Heinrich Zille sinngemäß: »Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso erschlagen wie mit einer Axt.« Denn bautechnisch bewirkte das Tempo der Gründerjahre, dass überwiegend mit viel zu nassem Kalkmörtel und viel zu hastig gebaut wurde: Es schimmelten die Wohnungen, ja das ganze Haus. Dann fiel der Putz von den Wänden. Sammeltoiletten auf den lichtlosen Hinterhöfen oder auf der halben Treppe waren Standard. Alte Fotos, etwa von Heinrich Zille, zeigen weitläufig wahrhaft schreckliche Zustände. In dem berühmten Buch »Das steinerne Berlin« von Werner Hegemann zur »Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt« werden diese Zustände noch 1930 festgestellt. Ähnlich mangelhafte Verhältnisse beklagt man in Hamburg mit den Gebäudetypen Schlitz- und Terrassenhäuser. Dort ist der Abstand zum Nachbarn nach Bauordnung der Hansestadt von stellenweise nur zwei Metern zulässig! Das heute diese Altbauten als begehrte Immobilien zum Wohnen, zum Arbeiten und als gastronomische Areale gehandelt werden, liegt an verschiedenen strukturellen Vorzügen. Hygienisch sind dies Gebäude aber erst durch die über hundert Jahre währende Austrocknung, Kriegsschäden-Beseitigung, Instandsetzungen und etliche Grundsanierungen geworden.

Neben die bautechnische Katastrophe tritt eine wirtschaftlich-soziale Notlage: Nahrungsmittel kosteten das Gros der Bevölkerung zur Jahrhundertwende etwa die Hälfte ihres Einkommens. Die Höhe üblicher Mieten entsprach diesem Preisniveau. Es war daher naheliegend, zusammenzurücken, um Zimmer untervermieten zu können. Selbst Betten wurden an Schlafgänger vermietet, freiwillig. Eine bekannte Graphik der GEHAG-Nachrichten stellte um 1930 fest, dass die Belegungsdichte von Häusern gleicher Größe in London acht Menschen betrug, in New York 20 Menschen, in Wien 50, in Berlin aber 76 Menschen – »freiwillig«, notgedrungen!

Krank durch Wohnverhältnisse

Den Allgemeinen Ortskrankenkassen konnte aus ihren internen Statistiken nicht entgehen, dass viele der Versicherungsfälle wie chronische Bronchitis, Lungenentzündungen, Tuberkulose oder auch Ruhr und Cholera den vorherrschenden Wohnverhältnissen geschuldet waren. Dazu traten Meldungen der Ärzteschaft und Krankenhäuser, die jede nachhaltige Gesundung ihrer Patienten gefährdet sahen, sobald diese wieder in ihren Wohnungen wären.

Albert Kohn gründete im Zuge dieser Erkenntnisse 1893 zunächst die »Arbeiter-Sanitäts-Commission« (ASC). Diese Kommission wurde durch die Sozialdemokratische Partei getragen und unterstützt von linken Gewerkschaften. Für die Bestandsaufnahme verpflichtete Albert Kohn die Armenärzte Dr. Alfred Blaschke, Dr. Paul Christeller, Dr. Karl Kollwitz – Ehemann der Graphikerin Käthe Kollwitz –, Dr. Rafael Friedberg, Dr. O. Kayserling und andere. Das Ergebnis war niederschmetternd. Ein Drittel bis die Hälfte aller Krankheiten konnten direkt mit den Wohnverhältnissen der Arbeiterschaft in Verbindung gebracht werden.

Um aber auch gegenüber Behörden und Verwaltung auf der einen und den Lobbyisten der gewinnorientierten Privatwirtschaft, den Haus- und Immobilienbesitzern, den systematisch wissenschaftlichen Nachweis zu erbringen, erweiterte Albert Kohn die »Arbeiter-Sanitäts-Commission« zur Berliner Wohnungsenquete. Ab 1902 erschien jährlich ein Berichtsband mit exakten statistischen Auswertungen angetroffener Mieter, Beschreibung der Wohnungen – und Fotos des Ateliers Heinrich Lichte und Co. Diese Fotos bilden noch heute Grundlage jeder Publikation über das Wohnungselend der späten Kaiserzeit, Kriegszeit und frühen Weimarer Republik.

Allerdings mussten sich die Allgemeinen Ortskrankenkassen auf individuelle Wohnungskontrollen und Inspektionen beschränken, da es zu dieser Zeit keine rechtlichen Grundlagen zu staatlichem Eingreifen der Gesundheitsbehörden oder der Wohnungsaufsicht gab. Dennoch erreichten die Berichte der Wohnungsenquete die gebildete Öffentlichkeit und politischen Entscheidungsträger. Die Berichte wirkten aber auch in die Allgemeinen Ortskrankenkassen hinein, die 1904 beschlossen, eine durchgreifende Wohnungsreform von der Stadt Berlin und vom Staat einzufordern. Parallel setzte sich innerhalb der AOK die Idee durch, die Ortskrankenkassen müssten selbst auch gesunden Wohnraum schaffen.

»Ideale« Bauvorhaben

Die Allgemeine Ortskrankenkasse Rixdorf, heute Bezirk Neukölln von Berlin, hatte 1905 von einem Gönner ein großes Grundstück kaum zwei Gehminuten vom Amtsgericht und Rathaus äußerst günstig erwerben können. Für die geplante Niederlassung war es zu groß, sodass sich gesunder, vorbildlicher, »idealer« Wohnungsbau zu beiden Seiten geradezu aufdrängte. Albert Kohn unterstützte das Vorhaben nach Planung der Architekten Willy und Paul Kind. Man reichte den Bauantrag ein und fiel aus allen Wolken als dieser vom Bauamt Rixdorf abgelehnt wurde. Die Administration verbot der AOK schlicht, Wohnungsbau aus ihren Mitteln zu betreiben. Ein Tipp eines Finanzbeamten ermöglichte schließlich doch den Bau der »Idealpassage« schließlich doch. Bis heute lassen sich die Bauten zwischen der Berliner Fuldastraße 55–56 und Weichselstraße 8 noch ansehen. Die AOK-Rixdorf gründete unter personeller Beteiligung die Rixdorfer Baugenossenschaft »Ideal« eG.

Albert Kohn hatte den Ortskrankenkassen eine weitere Bauaufgabe aufgegeben: Am 21. Dezember 1907 eröffnete die AOK ihre erste Lungenheilstätte in Müllrose bei Frankfurt an der Oder nach Entwürfen der Architekten Paul Hakenholz und Paul Brandes. 1907 bis 1908 ermöglichte die Ortskrankenkasse der Buchbinder als Darlehensgeber der Arbeiterbaugenossenschaft Paradies in Bohnsdorf den behördlich geforderten Bau der Erschließungsstraße (heute Paradiesstraße). Nur durch diesen öffentlichen Straßenbau wurde es der Genossenschaft erlaubt, zwei weitere Geschosswohnungsbauten mit zusammen 24 Wohnungen zu errichten. Weitere Förderung zu Erweiterungen der Arbeiterbaugenossenschaft Paradies in Bohnsdorf folgten.

Albert Kohn war mittlerweile der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft beigetreten. Diese Gesellschaft propagierte den damals fortschrittlichsten Wohnungsbau auf der Grundlage der Gartenstadtidee von Sir Ebenezer Howard. Die Gesellschaft lud 1911 Albert Kohn zu einer »sozialen« Studienreise nach England ein, um die spektakulärsten Mustersiedlungen Letchwood Gardencity und Welwyn Gardencity bei London sowie Port Sunlight bei Liverpool vor Ort zu studieren. Aus dieser Reise resultierte die Beteiligung der AOK an der Gründung der Gemeinnützigen Baugenossenschaft Groß-Berlin. Zu den zentralen Gründungsmitgliedern gehörte die AOK mit Albert Kohn, sowie Adolf Otto, Robert Tautz, die Brüder Paul und Bernhard Kampffmeyer. Ziel dieser Baugenossenschaft war es, eine vorbildliche Gartenstadt in Berlin zu errichten. Der nahe S-Bahnhof Berlin-Grünau sorgte dabei für die Anbindung an die Innenstadt, wie es Howard für Gartenstädte gefordert hatte. In Grünau entstand nach Plänen des Architekten Bruno Taut die berühmte Tuschkastensiedlung, heute Weltkulturerbe.

Das Wohnproblem ist nicht gelöst

Bei der Novellierung der Reichsversicherungsordnung wurden dann die rechtlichen Grundlagen für die Beteiligung der Allgemeinen Ortskrankenkassen als »Maßnahmen allgemeiner Art zur Verhütung von Krankheiten der Kassenmitglieder« geschaffen. »Die Sorge für gesunde Wohnungen sind die logische Konsequenz der Arbeiterversicherung«, schreibt die Zeitung »Die Ortskrankenkasse«. Nach dem vierten Paragrafen des Preußischen Wohnungsgesetzes vom 28. März 1918 sollten die Krankenkassen Einfluss auf Bebauungspläne und Bauordnungen nehmen. Ebenso wurde die Zusammenarbeit mit der Wohnungsaufsicht geregelt.

Als dann am 14. April 1924 die Gemeinnützigen Heimstätten AG (GEHAG) im Bundeshaus des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB) gegründet wurde, war es der Allgemeinen Ortskrankenkasse selbstverständlich, zu den Gründungsaktionären zu gehören.

Neben der AOK standen die beiden großen Gewerkschaften ADGB und der AfA-Bund, der Allgemeine Deutsche Beamtenbund sowie Gewerkschaften aus dem Bereich Druck und Papier und der deutsche Bauarbeiterverband. Dazu traten die Baugenossenschaften, Freie Scholle Tegel, Ideal, der Wohnungsbauverein Neukölln, der Berliner Spar- und Bauverein von 1892 und die Arbeiterbaugenossenschaft Paradies. August Ellinger vertrat den Verband sozialer Baubetriebe. Die Stadt Berlin war mit ihrer Wohnungsfürsorgegesellschaft vertreten. Die Arbeiter- und Beamtenbank, die Rentenversicherung Volksfürsorge und die Konsum-Genossenschaft Berlin und Umgegend wurden zu befreundeten Unternehmungen der GEHAG. Diese breit in der Gesellschaft verankerte, wirtschaftliche Unternehmung der Arbeiterbewegung ist jetzt 100 Jahre alt.

Der Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin Brandenburg und das August-Bebel-Institut werden zum 100sten Gründungsjubiläum der GEHAG alle noch existierenden Ehemaligen erstmalig seit 1924 am 13. April 2024 zusammenführen, um aus dem Gedenken Gedanken zu entwickeln, damit der damalige qualitative und quantitative Erfolg der GEHAG (1924 bis 1933 und 1952 bis 1999) angesichts der derzeitigen, alarmierenden Zahlen im Wohnungsbau wiederholt werden kann.

Steffen Adam ist Architekt und Bauhistoriker sowie Mitglied im Vorstand des Architekten- und Ingenieurvereins zu Berlin-Brandenburg.

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