FOCUS online: Frau Fell, Herr Dr. Schareck: Etliche Krisen wie der Ukraine-Krieg, Corona, Energieengpässe, die Folgen der Flutkatastrophe Mitte 2021 in Rheinland-Pfalz und NRW, dazu der Digitalisierungsstau – der Versicherungsmarkt wird ordentlich durchgeschüttelt. Dazu vergreist die deutsche Gesellschaft. Welche Herausforderungen kommen auf die Branche zu?

Claudia Fell: Wie die Frage schon andeutet, sind die Herausforderungen vielfältig. Die multiplen Krisen und ihre Auswirkungen auf Inflation und Zinsen zwingen auch Versicherungsunternehmen, Produkte anzupassen, Kosten zu sparen und teilweise auch das Preisniveau anzugleichen, da zum Beispiel Reparaturkosten im Automobil- oder auch Gebäudebereich massiv steigen.

Auch stehen die Versicherer vor einer weiteren Welle der Digitalisierung, die auch – aber nicht nur – durch die Weiterentwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI) möglich wird. Die durch den Einsatz von Technologie und KI zu erzielenden Effizienzsteigerungen wird die Branche dringend brauchen, um die demografischen Entwicklungen, die Überalterung der Belegschaften und den Kampf um Talente ausbalancieren zu können.

Wo liegen die Hauptprobleme?

Fell: Der demografische Wandel trifft die Versicherer nicht nur in ihren eigenen Organisationen. Kundenbedürfnisse verändern sich derzeit erheblich. Der Markt muss sich auf zwei völlig unterschiedliche Interessengruppen einstellen. Die ältere Generation, die ein gewisses Vermögen angespart hat, verfolgt ganz andere Ziele als jüngere Generationen. Gerade die Altersgruppe Ü65 braucht Produkte, die auch Assistance-Leistungen beinhalten und auf eine für den jeweiligen Kunden zugeschnittene, umfassende Betreuung abzielen – über die reine Kranken- oder Pflegeversicherung hinaus.

„Der Markt muss sich auf zwei völlig unterschiedliche Interessengruppen einstellen“

Wie sollen solche Modelle aussehen?

Christian Schareck: Der Anteil der älteren Versicherten nimmt zu, die Boomer-Generationen gehen in absehbarer Zeit in den Ruhestand. Damit wächst die Gruppe derjenigen, die nun Leistungen in der Lebens- und Rentenversicherung beziehen, signifikant. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden hierzulande zirka 95 Millionen Lebensversicherungsverträge abgeschlossen, nun gelangen die angesparten Summen zunehmend zur Ausschüttung. Zugleich ist die Lebenserwartung stark gestiegen. Heute werden die Leute im Schnitt deutlich über 80 Jahre alt, das heißt, die Entsparphase währt mittlerweile teilweise schon länger als die Ansparphase.  

 

Heißt im Kern?

Schareck: Für die Menschen besteht die Herausforderung, so adäquat vorzusorgen, dass es am Ende reicht. Dies gilt für die gesamte Palette, neben der Altersvorsorge auch im Bereich der Kranken- und Pflegeversicherung. Den Versicherern kommt vor dem Hintergrund immer mehr älterer und allein lebender Leute zukünftig noch stärker als bisher die Rolle zu, die Lücken aus der gesetzlichen Vorsorge mittels adäquater Angebote weiter schließen zu helfen. Diese Aufgabe ist gesellschaftlich und volkswirtschaftlich höchst systemrelevant. Dabei gilt es, bestehende Herausforderungen zu meistern und Potenziale zu nutzen. 

Inwiefern?

Schareck: Beispiel Riester-Rente. Das Modell erzielt unter anderem aufgrund der staatlichen Überregulierung unzureichende Ergebnisse und sieht sich nachvollziehbarer Kritik ausgesetzt. Hohe Vertriebs- und Verwaltungskosten schmälern den Sparerfolg, der wegen der Höhe immer nur ein Baustein der Altersvorsorge darstellen kann und somit die damit erworbene Rentenansprüche häufig in überschaubaren monatlichen Zahlungen resultieren. Die Akzeptanz sinkt beim Anblick der jährlichen Standmitteilungen und Beispielrechnungen signifikant. Dieser Trend wird durch die geplante Umsetzung digitaler Renteninformationen deutlich zunehmen.

„Es geht nicht darum, den alten Leuten mit unsinnigen Angeboten den letzten Euro aus der Tasche zu ziehen“

Eine Bestandsaufnahme, die nicht neu ist: Wie sollten die Konzerne reagieren?

Schareck: Hier kann die Assekuranz ansetzen und sinnvolle Angebote machen, mit diesen Summen die Versorgungsleistungen im Pflegefall oder der Gesundheitsvorsorge zu erhöhen. Auch Unterstützung hinsichtlich Haus und Wohnung sind in diesem Zusammenhang sinnvolle Bausteine. Die Menschen wollen so lange wie möglich selbständig in ihrem Eigenheim oder ihrer vertrauten Umgebung bleiben – Konzepte, die dies ermöglichen, werden zukünftig sicher eine tragende Rolle spielen. Hierdurch lassen sich tatsächliche Mehrnutzen für den Kunden schaffen. So unterstützt Roland Berger aktuell bei der konzeptionellen Entwicklung und Ausgestaltung von Mehrwertservices im Umfeld von Gesundheitsdienstleistungen.

Das klingt irgendwie, als wolle die Branche den Senioren und Seniorinnen ihr Erspartes auch noch im hohen Alter abluchsen.

Schareck: Darum geht es nicht. Die Konzerne wollen und sollen den alten Leuten nicht mit unsinnigen Angeboten den letzten Euro aus der Tasche ziehen. Vielmehr muss das Ziel sein, das Lebenserwartungsrisiko mit all seinen Facetten auch mit 80 oder 90 Jahren abzudecken. Hier ist Nachhaltigkeit gefragt! Der Staat wird diese Risiken nicht alleine stemmen können. Laut Wissenschaftlichem Institut der Privaten Krankenversicherung wird die Lücke allein in der Sozialen Pflegeversicherung bis Ende 2029 bei 46 Milliarden Euro liegen. Hier müssen sich die Versicherer klar als Teil der Lösung präsentieren und dies auch in der Kommunikation nach außen deutlich machen.  

Das sieht bei Menschen unter 30 sicherlich ganz anders aus.

Fell: Stimmt genau. Gerade die so genannte Generation Z verfolgt ganz andere Lebensmodelle. Auch wenn diese Gruppe gar nicht so homogen ist, wie sie nach außen erscheinen mag, verbindet sie wenig mit Versicherungen.

Zwar ist es schon so, dass auch diese Generation sicherheitsorientiert denkt. Allerdings kommunizieren diese jungen Menschen über völlig andere Kanäle. Diese Klientel ist auf Social Media unterwegs. Studien beschreiben das Medienverhalten der Gen Z ganz anders als jenes der Boomer-Altersjahrgänge. Die jüngeren Leute folgen viel stärker Empfehlungen durch Freunde aus den sozialen Netzwerken. Sie lesen keine Webseiten über Produktinformationen. Die Bereitschaft mit virtuellen Assistenten wie Bots zu arbeiten, ist deutlich höher als bei den Middle Agern oder der Senioren-Fraktion. Und das, obwohl auch die Gen Z für komplexe Themen eine persönliche Beratung wünscht – nur halt nicht auf dem eigenen Sofa. Kurzum: Diese Gruppen muss man ganz anders ansprechen.

„Soziale Netzwerke und Künstliche Intelligenz sind die Info-Plattform der Zukunft“

Muss sich die Versicherungsbranche neu aufstellen, um die jungen Leute zu erreichen ?

Fell: Zunächst einmal sollten die Konzerne mehr Wert darauf legen, die sozialen Medien zu bespielen. Die Unternehmen müssen dort präsent sein, wo die Kundschaft von morgen unterwegs ist. Künstlerische Fantasie und viel Witz ist gefragt, wenn man Videos über Versicherungsprodukte via Tiktok oder Instagram erfolgreich platzieren will, um neues Geschäft zu akquirieren. Hier muss eine Balance zwischen zielgruppen-adäquater Kommunikation und dem übergreifenden Markenimage gefunden werden.

Viele junge Frauen und Männer denken nicht ans Altern oder an eine ausreichende Gesundheitsvorsorge. Wer diese Klientel für sich gewinnen will, muss eine ganz andere Sprache rüberbringen, neue Trigger-Faktoren setzen. Und zwar in kürzester Zeit, weil alles übers Handy läuft. Mit dem freundlichen Herrn Kaiser als Versicherungsvertreter aus der alten TV-Werbung können Sie bei diesen Menschen nicht punkten. Im Zuge der Digitalisierung hat sich die Kundenschnittstelle gewandelt. Die sozialen Netzwerke bilden die Info-Plattform der Zukunft gemeinsam mit Künstlicher Intelligenz.

KI als der Kundenberater von morgen?

Fell: Nicht ganz. Eher eine Art digitaler Hilfs- und Infomanager, die erste Anlaufstelle, um sich schnell und ohne große Warterei in einer Service-Hotline-Schleife über das gewünschte Angebotsportfolio zu unterrichten. Gerade viele jüngere Menschen hegen hohe Erwartungen an einen 24-Stunden-Kundenservice. Hier kann KI helfen und allgemeine Fragen von Kunden rund um die Uhr beantworten. Sobald eine Beratung gewünscht ist, wird auch in naher Zukunft ein Berater oder Vermittler das Gespräch übernehmen. Hier wird gegebenenfalls die KI Vorschläge zu passenden Angeboten machen, die der Vermittler übernehmen oder anpassen kann – je nach dem, was er auf Basis seines Kundenverständnisses für richtig hält.

Heißt das am Ende, der Konzern spart am Personal und selbstständigen Versicherungsvertretern?

Schareck: Auch die Versicherer sind dem demographischen und gesellschaftlichen Wandel unterworfen und erleben gerade, dass viele altgediente Fachleute in den Ruhestand gehen. Diesem Know-how-Verlust – sowohl intern als auch im Außendienst – müssen die Unternehmen in den kommenden Jahren entschieden entgegenwirken. Dabei ist es für die Unternehmen sehr schwer, auf dem Arbeitsmarkt rein quantitativ ausreichend Nachwuchs für den Vertrieb als auch für die Verwaltung zu rekrutieren. Ein Problem, das viele Branchen beschäftigt und das mit Hilfe neuer Ansätze gelöst und ausgeglichen werden muss.

Hinzu kommt, dass gut geschulte und ausgebildete junge Arbeitskräfte keine 40-Stunden-Woche im Büro mehr wollen. Flexible Arbeitszeiten, Work-Life-Balance, regelmäßiges Home-Office etc. schaffen völlig neue Arbeitswelten mit zahlreichen neuen Anforderungen. Bei all diesen Herausforderungen werden die zunehmende Automatisierung von Prozessen, die Stärkung der digitalen Kommunikation in hybriden Arbeitsmodellen und KI-basierte Ansätze in der Kundenberatung zu zentralen Erfolgsfaktoren der Branche. 

Wo liegen Chancen von KI in der Versicherungswirtschaft ?

Fell: Aufgrund der Nachwuchsprobleme wird es in der Zukunft immer weniger Vermittler geben. Eine Vielzahl unserer Projekte mit Versicherern beschäftigt sich mit der Verschiebung eines Teils des Beratungsgeschäfts in die hybride Welt. Im Ergebnis kann man durch KI Arbeitsabläufe schneller und effizienter machen, um die Versicherungsberater zu entlasten. Zugleich wird für eine gleichmäßige Qualität der Beratung gesorgt. KI übermittelt beispielsweise die Telefonnummer des Kunden an den Vermittler nebst den Infos, welche Verträge er bereits abgeschlossen hat, plus Vorschlägen zu Handlungsoptionen, um die neuen Wünsche zu befriedigen. Als Qualitätssicherer muss aber der Berater entscheiden, ob er den KI-Vorschlägen folgt oder andere Optionen für sinnvoll hält.

Auf welchen Feldern kann Künstliche Intelligenz noch nützen?

Fell: Bei KFZ-Schäden etwa kann KI helfen, die jeweiligen Meldungen zu sortieren und schnell maschinell zu regulieren, wenn alle erforderlichen Unterlagen eingegangen sind. Auch kann KI vergleichende Abfragen durchführen, um etwaigen Betrügern auf die Schliche zu kommen. Generell sind vielfältige Einsatzmöglichkeiten denkbar, wenn der Datenschutz sichergestellt ist und Manipulationen ausgeschlossen bleiben.

Wo liegen die Grenzen?

Schareck: KI wird – adäquat eingesetzt – ganz sicher helfen, die Effizienz der Wertschöpfungskette deutlich zu steigern. Dies steigert den Nutzen aller Beteiligten. Zugleich müssen die Risiken stetig überwacht und minimiert werden. Generell ist Effizienz nicht die einzige „Währung“ – so sollten etwa ethische Grundkomponenten stets sichergestellt sein. Beispielsweise sind bei schwerwiegenden gesundheitlichen Fragestellungen Entscheidungen nicht einer Maschine oder Algorithmen zu überlassen.





Source link www.focus.de