New York. In den vergangenen fünf Monaten hat Israel Tausende Hamas-Kämpfer getötet, Dutzende Tunnel der Islamisten zerstört und im Gazastreifen nie dagewesene Verheerungen angerichtet. Doch die Regierung befindet sich seit Beginn des Krieges in einem Dilemma, das letztlich über den Ausgang entscheiden wird: Entweder kann sie versuchen, die Hamas zu vernichten, was für schätzungsweise 100 Geiseln, die noch im Gazastreifen festgehalten werden, den fast sicheren Tod bedeuten würde – oder sie kann ein Abkommen aushandeln, das den Militanten einen historischen Sieg ermöglichen würde.
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Beide Ergebnisse wären unerträglich für die Israelis, und beides würde wahrscheinlich das schmachvolle Ende der langen politischen Karriere von Regierungschef Benjamin Netanjahu besiegeln. Für die Hamas hingegen mit ihrer Verherrlichung von Märtyrern wäre wahrscheinlich beides akzeptabel.
Entscheidung zwischen Geiseln und militärischem Sieg
Netanjahu leugnet – zumindest in der Öffentlichkeit – ein solches Dilemma. Er hat geschworen, die Hamas zu vernichten und alle Geiseln zurückzuholen, entweder durch Rettungsaktionen oder durch Waffenruheabkommen. Dabei betont er, der Sieg könnte „in wenigen Wochen“ erreicht werden.
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Solange der Krieg wütet, kann er vorgezogene Wahlen vermeiden, die ihn laut Umfragen das Amt kosten würden. Doch es scheint unvermeidlich, dass irgendwann eine Entscheidung zwischen den Geiseln und einem militärischen Sieg getroffen werden muss.
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Unterdessen scheint es die Hamas nicht eilig zu haben, vor dem bald beginnenden muslimischen Fastenmonat Ramadan eine vorübergehende Waffenruhe auszuhandeln oder eine Militäroffensive Israels im südlichen Rafah zu verzögern, wo die Hälfte der Bevölkerung des Gazastreifens Zuflucht gesucht hat.
Hamas-Chef Jihia al-Sinwar, mutmaßlicher Drahtzieher des Angriffs auf Israel am 7. Oktober, glaubt, den Krieg zu seinen Bedingungen beenden zu können, solange er die Geiseln festhält.
Al-Sinwars blutiges Spiel
In den mehr als zwei Jahrzehnten, die Al-Sinwar in israelischen Gefängnissen verbrachte, lernte er Berichten zufolge fließend Hebräisch, studierte die israelische Gesellschaft und fand eine Schwachstelle im Schutzpanzer seines militärisch überlegenen Gegners: Er lernte, dass Israel es nicht dulden kann, wenn seine Bürger, vor allem Soldaten, gefangen gehalten werden. Deshalb lässt Israel nichts unversucht, sie nach Hause zu holen. Al-Sinwar selbst gehörte zu den mehr als 1000 palästinensischen Gefangenen, die 2011 im Austausch für einen einzigen israelischen Soldaten freigelassen wurden.
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Für Al-Sinwar war das Massaker am 7. Oktober vielleicht nur ein Nebenschauplatz der Hauptoperation, eine große Zahl von Geiseln in ein riesiges Tunnellabyrinth unter dem Gazastreifen zu verschleppen, aus dem Israel sie nicht retten kann, und wo sie den Hamas-Führern als menschliche Schutzschilde dienen. Sobald dies erreicht war, hatte er ein machtvolles Druckmittel, um eine große Anzahl palästinensischer Gefangener freizupressen, darunter auch führende Hamas-Mitglieder mit lebenslangen Haftstrafen, und um ein Ende des israelischen Angriffs zu verhandeln.
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Israels Militäroperationen bedeuten auch den Tod der Geiseln
Nach israelischen Angaben erstrecken sich die Tunnel über Hunderte von Kilometern, einige sind mehrere Stockwerke tief und durch Panzertüren und Sprengfallen geschützt. Selbst wenn Israel die Hamas-Führer ausfindig macht, würde jede Militäroperation den fast sicheren Tod der Geiseln bedeuten, die wahrscheinlich in ihrer Nähe sind.
„Die Ziele sind ziemlich widersprüchlich“, sagt Amos Harel, langjähriger Militärkorrespondent für die israelische Zeitung „Haaretz“. „Natürlich kann man sagen, dass es ein Jahr dauern wird, die Hamas zu besiegen, und wir kommen dabei voran, doch das Problem ist, dass niemand garantieren kann, dass die Geiseln am Leben bleiben.“ Auch wenn Israel Al-Sinwar und andere führende Köpfe töte, würden andere nachrücken und sie ersetzen, wie das in der Vergangenheit geschehen sei, so Harel: „Israel wird es sehr schwer haben, diesen Kampf zu gewinnen.“
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Aussicht auf Freilassung von Geiseln nur mit Waffenruhe
Israel hat seit Beginn des Krieges drei Geiseln befreit, die alle über der Erde festgehalten wurden. Drei weitere Geiseln wurden von israelischen Soldaten versehentlich getötet, und nach Darstellung der Hamas kamen mehrere bei Luftangriffen oder gescheiterten Rettungsaktionen ums Leben. Mehr als 100 Geiseln wurden im Rahmen eines Waffenruheabkommens im Austausch gegen von Israel inhaftierte palästinensische Gefangene freigelassen.
Netanjahu zufolge wird militärischer Druck letztendlich die Freilassung der etwa 100 noch von der Hamas gefangen gehaltenen Geiseln und die Übergabe der Überreste von 30 weiteren bewirken. Im Januar sagte jedoch Gadi Eisenkot, ehemaliger israelischer Top-General und Mitglied in Netanjahus Kriegskabinett, dass jeder Illusionen verbreite, der behaupte, die verbleibenden Geiseln könnten ohne ein Waffenruheabkommen freikommen.
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Es ist schwer vorstellbar, dass die Hamas ihre wertvollsten menschlichen Schutzschilde für eine vorübergehende Waffenruhe freilässt, nur um dann zu erleben, wie Israel den Krieg zur Vernichtung der Gruppe wieder aufnimmt. Dass sich ihre Chefs ergeben und ins Exil gehen, hat die Hamas abgelehnt. Al-Sinwar könnte mit den Geiseln im Untergrund bleiben und abwarten, ob seine Wette aufgeht.
Wie wird dies enden?
Netanjahus Regierung steht unter wachsendem Druck von den Familien der Geiseln, die befürchten, dass ihnen die Zeit davonläuft, und von der Öffentlichkeit, die die Rückholung der Geiseln als heilige Pflicht betrachtet. US-Präsident Joe Biden, Israels wichtigster Verbündeter, läuft Gefahr, im November die Wiederwahl zu verlieren, auch weil die Demokraten wegen des Krieges gespalten sind.
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Die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen löste weltweit Empörung aus. Der Krieg droht einen Flächenbrand im Nahen Osten anzufachen. Gleichzeitig liegt ein Vorschlag der Hamas auf dem Tisch, bei dem die Geiseln lebend zurückkommen: Darin wird die schrittweise Freilassung aller Geiseln angeboten im Gegenzug für einen allmählichen Rückzug Israels aus dem Gazastreifen, einen langfristigen Waffenstillstand und den Wiederaufbau. Israel müsste auch Hunderte Gefangene freilassen, darunter führende palästinensische Politiker und Kämpfer, die wegen der Tötung von Zivilisten verurteilt wurden.
Mehr als 30.000 Tote
Mit ziemlicher Sicherheit würde die Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen behalten und könnte sogar Siegesparaden abhalten. Mit der Zeit könnte die Islamistenorganisation neue Kämpfer rekrutieren, die Tunnel wieder aufbauen und ihre Waffenarsenale aufstocken.
Mit laut Gesundheitsministerium der Hamas mehr als 30.000 Toten und der völligen Zerstörung eines Großteils des Gazastreifens würden die Palästinenser einen hohen Preis für diesen Sieg bezahlen. Eine seltene Umfrage zu Kriegszeiten im vergangenen Jahr ergab, dass die Unterstützung für die Hamas zunimmt: Mehr als 40 Prozent der Palästinenser im besetzten Westjordanland und im Gazastreifen stehen hinter der Gruppe.
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Unterstützung für Hamas steigt
Diese Unterstützung würde noch wachsen, wenn es der Hamas gelänge, die langjährige Blockade des Gazastreifens aufzuheben, sagt Tahani Mustafa, Palästina-Experte bei der internationalen Denkfabrik Crisis Group. „Wenn es gelingt, einige ernsthafte Zugeständnisse zu erreichen, die das Leben auch nur geringfügig verbessern, dann wird dies nicht nur die Unterstützung für die Hamas stärken, sondern auch die Unterstützung für den bewaffneten Widerstand im Allgemeinen.“
Netanjahu wies den Vorschlag der Hamas als „wahnhaft“ zurück, doch es gibt keine Anzeichen dafür, dass die militante Gruppe von ihren Kernforderungen abrückt. Israel kann Wochen, Monate oder Jahre weiterkämpfen. Die Armee kann noch mehr Kämpfer töten und noch mehr Tunnel sprengen, und dabei die Gebiete meiden, in denen sie die Geiseln vermutet. Doch irgendwann werden Netanjahu oder sein Nachfolger wahrscheinlich eine der schwersten Entscheidungen in der Geschichte ihres Landes treffen müssen – oder es wird für sie entschieden.
RND/AP