Fast 200 Hochschulen in Nordamerika sind wegen des Gaza-Kriegs besetzt. Die Universitätsleitungen versuchen die Protest-Camps fast überall gewaltsam zu räumen.

Fast 200 Hochschulen in Nordamerika sind wegen des Gaza-Kriegs besetzt. Die Universitätsleitungen versuchen die Protest-Camps fast überall gewaltsam zu räumen.

Foto: picture alliance/dpa/Sage Russell GW Hatchet/AP | Sage Russell

Die Protestbewegungen an nordamerikanischen Universitäten gegen den Krieg in Gaza haben in den letzten Wochen ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. An knapp 200 Hochschulen haben Studierende Protestcamps errichtet, die sich gegen die finanzielle und wissenschaftliche Beteiligung ihrer Ausbildungsstätten am, wie sie es nennen, »Genozid in Gaza« richten. Neben der massiven Investition von Forschungsgeldern in die Entwicklung von Waffentechnologien legen diese Universitäten große Teile ihres mitunter milliardenschweren Stiftungsvermögens in Rüstungskonzernen an, die das israelische Militär beliefern. Den Studierenden geht es darum, dass ihre Universitäten das verheerende Kriegsgeschehen in Gaza damit nicht nur aktiv unterstützen, sondern darüber hinaus auch noch direkt davon profitieren. Bisher wollen die meisten Hochschulen allerdings noch nicht einmal Transparenz über ihre Investitionsgeschäfte schaffen. »Wenn sie nichts zu verbergen haben«, so ein Studierender der New York University, »könnten sie ihre Investitionen doch offenlegen.«

Die Protestcamps begründen ihr Anliegen mit den Berichten großer Menschenrechtsorganisationen, die zahlreiche Kriegsverbrechen der israelischen Armee dokumentiert haben. Zudem stützen sie sich auf den Beschluss des Internationalen Gerichtshofes, der »plausible« Anzeichen für einen Völkermord in Gaza sieht. Obwohl es also gute Gründe für die Proteste gibt und sich die Widerstandsformen der Studierenden im verfassungsrechtlichen Rahmen bewegen, haben die Hochschulleitungen die Protest-Camps für unzulässig erklärt und mit den härtesten Strafen gedroht: von Disziplinierungsverfahren bis hin zur Suspendierung.

Damit haben die Universitäten von Anfang an für ein Klima der Eskalation gesorgt. Bei unserem Besuch des Encampments an der New School in New York wurde eine Kundgebung von Gegendemonstrant:innen mit Affenrufen attackiert, mit Bananen beworfen und laut »Geht zurück in den Dschungel, ihr Tiere« skandiert. Als Tiefpunkt können die Übergriffe rechtsextremer Gruppen an der University of California in Los Angeles gelten. Hunderte organisierte Rechtsextreme attackierten dort stundenlang ungehindert Studierende mit Schlagstöcken und ätzenden Chemikalien. Als die Polizei endlich eingriff, wurde die Situation genutzt, um das Protestcamp zu räumen. Dutzende Studierende wurden dabei durch die Polizei verletzt.

Bei den gewaltsamen Räumungen wurden landesweit bereits über 2.600 Studierende verhaftet und von ihren Universitäten suspendiert. Das bedeutet den Verlust des Wohnheimplatzes, sämtlicher Stipendien und Anstellungen auf dem Campus sowie die Gefahr von Ausweisungen für internationale Studierende. Diese repressive Bearbeitung politischer und sozialer Konflikte ist in den USA und anderen westlichen Demokratien schon länger zu beobachten. Ganz ähnlich wurde 2020 gegen die Proteste der »Black Lives Matter«-Bewegung und die Proteste gegen Cop City in Atlanta vorgegangen.

Begründet wird die Repression mit dem Vorwurf des Antisemitismus, obwohl eine große Anzahl der Beteiligten selbst jüdisch sind und der Kampf gegen Antisemitismus zu einem Grundprinzip der Bewegung gehört. Es finden gemeinsame Seder-Mahlzeiten und Torah-Lesungen statt; bei unserem Besuch an der New School führten israelische Studierende die Festlichkeiten im besetzten Hauptgebäude an: »Viele Leute in der Bewegung sind jüdisch. Wir akzeptieren nicht, dass das Verbrechen des Genozids in unserem Namen begangen wird.«

Bei unserem Aufenthalt in den Protestcamps sind wir vor allem jungen Studierenden begegnet, die ein Ende der Blockade, das Rückkehrrecht für palästinensische Geflüchtete und gleiche Rechte für alle in Israel / Palästina lebenden Menschen fordern. Auf den Camps finden Lesekreise statt, Essen und andere Ressourcen werden geteilt, und man bemüht sich um Zusammenarbeit mit den wiedererstarkten Gewerkschaften, von denen mehrere sich bereits für einen Waffenstillstand ausgesprochen haben. Zwar gab es im Rahmen der Proteste vereinzelt auch antisemitische Vorfälle – in einem Fall wurden Jüd:innen aufgefordert, »zurück nach Polen zu gehen«, in einem anderen der Hamas zugejubelt. Doch die Studierenden schritten sofort gegen diese Äußerungen ein.

Bei den Protestcamps handelt es sich um die größte Studierendenbewegung seit den 1960er Jahren. Die in den Camps begonnene Debatte junger Studierender über das Verhältnis zwischen westlichem Imperialismus und nicht-westlichen autoritären Regimen oder über die historischen Fallstricke antikolonialer Bewegungen ist auf jeden Fall wertvoll. Über die Zusammenhänge von emanzipatorischen Kämpfen wie der revolutionären Bewegung im Iran, gegen Besatzung und Krieg in Gaza, Kurdistan, Artsakh, Ukraine, Sudan oder Haiti sollte mehr und genauer gesprochen werden. Auf jeden Fall hat die Bewegung mit ihren Protest-Camps mittlerweile eine globale Dimension angenommen. Und: Mit ihrem Fokus auf der Entmilitarisierung der Universitäten zielen die Protestierenden zugleich auf eine Demokratisierung der Hochschule ab: »More Money for Education, not for Bombs and Occupation!« – mehr Geld für Bildung statt für Bomben und Besatzung.

Vanessa E. Thompson ist Soziologin und forscht zu Staatsgewalt, Rassismus und Abolitionismus.

Jochen Schmon promoviert in politischer Theorie zum Widerstand gegen Sklaverei und Kapitalismus.

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