Der Mann ist der Standard, die Frau eine Abweichung – eine Annahme, die lange Grundlage in der Medizin war. Jahrzehntelang wurden medizinische Daten vorrangig an Männern erhoben, Medikamente an männlichen Mäusen getestet, Frauen als „kleinere Männer“ oder „Männer mit mehr Hormonen“ behandelt. Bereits im Medizinstudium würden daher Werte als Standard gelehrt, die in Wirklichkeit nur für den männlichen Körper gelten, kritisieren Expertinnen und Experten.

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Dabei können sich die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Körpern gravierend auf Symptome und Behandlungserfolg auswirken. Sie zu ignorieren kann lebensgefährlich sein. Die Gendermedizin, auch geschlechtersensible Medizin, versucht, dem Abhilfe zu schaffen und Krankheiten geschlechterspezifisch zu erforschen.

Fünf wichtige Unterschiede, die die junge Disziplin bisher herausgefunden hat:

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Von wegen typisch: Die Symptome eines weiblichen Herzinfarktes

Wohl das bekannteste, wenn auch bei Weitem nicht einzige Beispiel für die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Krankheitsanzeichen ist der Herzinfarkt. Jahrelang hieß es in Schulbüchern und auf Präventionsplakaten: Ziehen im linken Arm, Schmerzen hinter dem Brustbein und im Unterkiefer, Schwindel und Atemnot – das ist ein Herzinfarkt.

Die meisten Frauen zeigen allerdings häufig unspezifischere Symptome: Sie leiden seltener an den leicht identifizierbaren Schmerzen in der Brust und eher an allgemeinen Oberbauch- und Rückenschmerzen. Daneben seien Brustenge und Atemnot („das Gefühl, einen Elefanten auf der Brust sitzen zu haben“), Übelkeit und Erbrechen sowie allgemeine Schwäche und Müdigkeit bei Frauen häufigere Symptome, informiert die Deutsche Herzstiftung auf ihrer Website.

Eine Münchener Studie zeigte, dass Frauen über 65 Jahren bei einem Herzinfakrt circa eine Stunde später in die Notaufnahme kommen als Männer – und das bei einer Krankheit, bei der jede Minute zählt. Die abweichenden Symptome zu (er)kennen kann also Leben retten.

Dass es sich mit Schlaganfällen ähnlich verhält, Frauen also häufig andere Symptome aufweisen als Männer, wird ab und an behauptet. Dafür gibt es allerdings keinen Beleg.

Medikamente: Mehr Nebenwirkungen und andere Dosis bei Frauen

Mittlerweile muss jedes Medikament, das von Frauen und Männern eingenommen wird, auch an Frauen und Männern getestet werden. Dass das lange anders war, lag nicht (nur) an Sexismus: Da der weibliche Hormonzyklus die Wirkung von Medikamenten beeinflussen kann, sind für eindeutige Ergebnisse bei Frauen umfangreichere Studien nötig – und die kosten die Pharmahersteller mehr Geld.

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Oft lässt sich eine Schwangerschaft bei Probandinnen zudem nicht hundertprozentig ausschließen, sodass Frauen zum Schutz des Embryos von Studien ausgeschlossen wurden. Nach dem Conterganskandal in den 60er-Jahren durften sie deshalb einige Zeit gar nicht an Medikamentenstudien teilnehmen. Auch heute sind aus all diesen Gründen Frauen in den Erststudien zu Medikamenten oft unterrepräsentiert.

Dabei gibt es vor allem bei der Verstoffwechselung vieler Medikamente signifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern. „Schmerzmittel wirken bei Frauen schneller, sodass Männer grundsätzlich eine höhere Dosierung benötigen“, schreibt etwa der Dachverband der Betriebskrankenkassen. Weil Frauen mehr Fettgewebe haben, werden bestimmte lipophile Medikamente in ihrem Körper dagegen langsamer abgebaut. Das gilt zum Beispiel für das Schlafmittel Zolpidem, dessen Standarddosierung folglich für die meisten Frauen zu hoch ist. Die US-Behörde FDA empfiehlt daher Frauen, nur die halbe Dosis einzunehmen – auf deutschen Beipackzetteln findet sich dazu kein Hinweis.

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Inwiefern sich ein Medikament unterschiedlich auf Männer und Frauen auswirkt, kann von Wirkstoff zu Wirkstoff variieren. Es lohnt sich, in der Arztpraxis oder Apotheke gezielt nachzufragen.

Zahlreiche Studien zu verschiedensten Medikamenten und Therapien kommen außerdem zu dem Schluss, dass bei Frauen mehr Nebenwirkungen auftreten als bei Männern. Eine groß angelegte britische Studie mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern zeigte, dass Frauen mehr als doppelt so viele unerwünschte Nebenwirkungen erleben wie Männer. Woran genau das liegt, ist nicht ausreichend erforscht – neben biologischen Ursachen könnte ein Grund sein, dass Frauen generell mehr Medikamente einnehmen, die miteinander in Wechselwirkung treten. Oder dass sie Nebenwirkungen schneller bemerken und melden.

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Frauen brauchen (etwas) mehr Schlaf als Männer

In den sozialen Medien häufen sich derzeit Videos, denen zufolge Frauen ein bis zwei Stunden Schlaf mehr benötigen als Männer: Denn alle Studien zum Thema hätten ausschließlich Männer untersucht. Für diese Behauptung gibt es keine Belege – obwohl es stimmt, dass Frauen in den letzten Jahrzehnten auch in Schlafstudien unterrepräsentiert waren. Verschiedene Studien zeigen, dass Frauen im Schnitt eher zehn bis 20 Minuten mehr Schlaf als Männer benötigen. Das könnte auch mit dem sozialen und weniger mit dem biologischen Geschlecht zu tun haben: Da Frauen überproportional viel Sorgearbeit übernehmen, sind sie psychisch oft angestrengter als Männer.

Frauen leiden außerdem häufiger an Schlafproblemen. Auch das könnte Studien zufolge damit zusammenhängen, dass sie sich nachts mehr Sorgen machen als Männer. Und: Unzureichender Schlaf bringt einer britischen Studie zufolge bei Frauen tagsüber heftigere Nachwirkungen mit sich.

Was wir aus der Evolutionsgeschichte des weiblichen Körpers lernen können.

„Der weibliche Körper ist sehr viel besser darin, nicht zu sterben“

Was zeichnet den weiblichen Körper aus? Warum gebären wir lebende Nachkommen? Um Fragen wie diese zu beantworten, ist die Forscherin Cat Bohannon weit in der Zeit zurückgegangen. Im Interview erklärt sie, was wir aus der Evolutionsgeschichte des weiblichen Körpers lernen können.

Frauen haben ein stärkeres Immunsystem – und brauchen weniger Impfstoff

Auf den ersten Blick klingt es nach einem Segen: Frauen haben erwiesenermaßen ein stärkeres Immunsystem, ihre Immunantwort auf Infekte fällt höher aus als bei Männern. Was Frauen resistenter gegenüber Virus-, Pilz- und bakteriellen Infektionen macht (dass ein „Männerschnupfen“ heftiger verläuft, ist kein Mythos, sondern biologisch nachweisbar) führt allerdings auch häufiger zu ungewollten Entzündungsreaktionen. Frauen sind daher anfälliger für Autoimmunerkrankungen.

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Aufgrund ihrer stärkeren Immunantwort reagieren Frauen intensiver auf Impfungen. Ihr Körper bildet in Reaktion mehr Antikörper. Bei einem inaktiven Grippeimpfstoff beispielsweise reiche bei Frauen die halbe Impfdosis, um dasselbe Ergebnis zu erzielen wie bei Männern, zeigte eine Studie – ein Fakt, der in der Praxis bisher wenig Anwendung findet, und der aber nicht nur bei einer Impfstoffknappheit relevant sein könnte.

Frauen zeigen dafür erwiesenermaßen häufiger unerwünschte Nebenwirkungen nach dem Piks. Zuletzt gab es Debatten nach der Corona-Impfung, die nachweislich den weiblichen Zyklus beeinflusst. Was sich später als eine geringfügige und vorrübergehende Wirkung herausstellte, beunruhigte zunächst viele Patientinnen – und war bis dahin kaum erforscht.

Der soziale Aspekt: Vom Nichternstgenommenwerden und späten Diagnosen

Ein großer Unterschied in der medizinischen Behandlung von Frauen und Männern besteht in der Beziehung zwischen Arzt und Ärztin zu Patient oder Patientin. Gender-Bias wird die Voreingenommenheit von Ärzten und Ärztinnen gegenüber den verschiedenen Geschlechtern genannt. Ein Beispiel zeigt sich in der Behandlung von Schmerzpatienten: Männliche Patienten mit Schmerzen werden oft als „stoisch“, weibliche Schmerzpatientinnen als „emotional“ wahrgenommen, zeigte eine Studie. Endometriose, eine frauenspezifische Krankheit mit starken Schmerzsymptomen, ist das beste Beispiel – Betroffene berichten häufig von einem langen Leidensweg und vielen Fehldiagnosen.

Auch bei psychischen Erkrankungen und Neurodivergenzen wie Autismus und ADHS ist der Umgang mit weiblichen Patientinnen oft anders als der mit männlichen. Lange wurde etwa angenommen, dass mehr Jungen als Mädchen von ADHS und ADS betroffen seien. Mittlerweile teilen viele Mediziner und Medizinerinnen die Überzeugung, dass Mädchen lediglich früher lernen, sich an die Erwartungen der Gesellschaft anzupassen – und daher zwar genauso leiden, aber weniger auffallen. Auch hier seien die Diagnosekriterien ausschließlich an Männern orientiert, kritisieren Aktivistinnen.

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Umgekehrt verhält es sich mit Depressionen, die bei Frauen weit häufiger diagnostiziert werden, obwohl jährlich mehr Männer durch Suizid ums Leben kommen. Auch leben Frauen im Schnitt länger, weil sie häufiger zum Arzt gehen – und weniger Probleme damit haben, über Krankheiten zu sprechen und um Hilfe zu bitten. Eine an sozial-gesellschaftliche Geschlechterunterschiede angepasste individuelle Behandlung kann also auch Männerleben retten.





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