Am dritten Tag in der Türkei ruft Frank-Walter Steinmeier laut “Merhaba asker!” –
“Guten Tag, Soldaten!” Der Himmel über dem
Präsidentenpalast in Ankara ist bedeckt, die türkisfarbenen Uniformen der Soldaten leuchten
zwischen den Blechhelmen und Kettenhemden der
kostümierten Leibgarde des Palastes. Recep Tayyip Erdoğan nickt zufrieden und geleitet
den Bundespräsidenten über den knapp 100
Meter langen türkisfarbenen Teppich hin zum Saray, dem Tausend-Zimmer-Palast des
türkischen Präsidenten. Noch eine langsame
Drehung auf den Stufen zum Eingang, ein
Lächeln, ein Händeschütteln, dann geht es zum Vieraugengespräch. 

Viel Marschgepäck hat Frank-Walter Steinmeier
mit in die Türkei gebracht. Ganz große
Fragen, die Kriege im Nahen Osten und
Russlands Zerstörungsfeldzug gegen die
Ukraine. Ganz kleine Fragen schieben sich
dazwischen, zum Beispiel jene, warum der
Bundespräsident mit Berliner Dönerfleisch in
die Türkei gereist ist. Hinter allem steht
der Versuch des Bundespräsidenten, die Türkei
und ihre Zivilgesellschaft durchaus herzlich
zu umarmen – und mit ihrem Präsidenten ein
ernstes Gespräch zur Sache zu führen. 

Differenzen zu Nahost

Im Palast von Ankara wird natürlich der Krieg
in Nahost durchgenommen – aber aus zwei
völlig gegensätzlichen Perspektiven.
Steinmeier spricht über den “brutalen Angriff
der Hamas auf Israel” und sagt: “Ohne diesen
gäbe es keinen Krieg.” Mit Erdoğan habe er
über ihre “Differenzen” gesprochen. Die
schlagen sich auch darin nieder, dass Erdoğan nichts über den Hamas-Terror sagt – und
Steinmeier wenig über die Leiden in Gaza,
wohl aber etwas über die Notwendigkeit
humanitärer Hilfe. Was Erdoğan wiederum zum
Anlass nimmt, die Leiden der Zivilbevölkerung
zu beklagen und die “beispiellose Aggression
Israels” anzuprangern. “Benjamin Netanjahu
setzt die Sicherheit der ganzen Region aufs
Spiel, nur um sein politisches Leben zu
verlängern”, sagt Erdoğan. Dass die
finanzgeschwächte Türkei weiter gute
wirtschaftliche Beziehungen mit Israel
pflege, bestritt er auf Nachfrage. “Die
intensiven wirtschaftlichen Beziehungen mit
Israel sind vorbei.” Über die weniger
intensiven sagt er nichts. 

Der türkische Präsident empfing vorige Woche den
Hamas-Chef im Exil, Ismail Hanija in Ankara.
Schwer verdaulich für die Deutschen.
Umgekehrt nehmen die Türken es den Deutschen
krumm, dass sie Israel trotz Netanjahu und
Gaza-Krieg solidarisch unterstützen. Die
scharfe Kritik an ihrer Israel-Politik können
die Deutschen in der Türkei nicht überhören.
Schon am ersten Tag des Steinmeier-Besuchs in
Istanbul brüllen Demonstranten im Bahnhof
Sirkeci “Mörder” und “Zionisten”
. Sie hielten
Bilder von Netanjahu, Steinmeier und Hitler
hoch. Solche Protestbrigaden begrüßen
Steinmeier auch in Gaziantep und Ankara.
Häufig sind es Palästina-Aktivisten, nicht
selten mit islamistischer Aufladung. Aber die
Kritik an der deutschen Position geht quer
durch alle Schichten in der Türkei. Erdoğan braucht da gar nicht mehr viel hinzufügen. Im
Gegenteil, wo er sonst gern mal sehr scharf
serviert, widerspricht er Steinmeier nicht,
als dieser gemeinsame Interessen notiert:
dass dieser Krieg “kein Flächenbrand werde”
und “Lösungen für Gaza” gefunden werden
müssen. 

Wem gehört der Döner?

Auch zu den Döner-Kapriolen dieser Reise kommt nicht viel von Erdoğan. Der Berliner Gastwirt
Arif Keles reist mit Steinmeier und durfte
dabei 60 Kilo gefrorenes Fleisch im Lagerraum
der Präsidentenmaschine einbunkern. Was das
Bundespräsidialamt als Verbeugung vor der
deutsch-türkischen Geschichte geplant hat,
dreht als Nachricht in den türkischen und
deutschen Medien schnell frei. Da wird
beklagt, die Geschichte der Türkeistämmigen
in Deutschland
werde auf den Döner reduziert.
Es gäbe doch viel besseres türkisches Essen.
Und warum deutsches Dönerfleisch in die
Türkei bringen? Die Aufregung wirkt
überspannt angesichts der Tatsache, dass die
Döner auf einem Empfang in der Residenz des
deutschen Botschafters in Istanbul gereicht
werden, mit Knoblauch oder “mit scharf”. Aber
vielleicht ist der echte Berliner Döner als
deutschtürkisches Kulturgut auch nicht gut
genug erklärt worden. Einziger Kommentar von Erdoğan dazu: “Der Döner ist in Istanbul
aufgegessen worden.” 

Was Erdoğan nicht so gut vertragen hat, ist
das Treffen von Steinmeier mit dem
Oppositionspolitiker Ekrem Imamoğlu, dem
glänzenden Gewinner der Istanbuler
Bürgermeisterwahlen vom März. In der
Entourage von Erdoğan ärgert man sich über
den Spin der İmamoğlu-Leute, Steinmeier habe
den Bürgermeister zwei Tage vor Erdoğan
besucht. Steinmeier stellt bei Erdoğan
richtig: İmamoğlu hat ihn in der deutschen
Residenz in Tarabya am Bosporus besucht.
Andere Begegnungen Steinmeiers dagegen finden Erdoğans Gefallen: Schulkinder und Erdbebenflüchtlinge in der Region Gaziantep, die von
Deutschland unterstützt werden, die
Universität von Ankara, Wirtschaftsvertreter.
Das Treffen mit Vertretern der
Zivilgesellschaft und das Gespräch über
Rechtsstaatlichkeit – na ja. 

Erdoğan will Zusammenarbeit bei Rüstung

Und einen Wunsch
hat der türkische Herrscher. Die deutschen
Rüstungsexporte in die Türkei sollten nicht
länger blockiert werden. Ja, man könne sogar
Rüstungsgüter gemeinsam herstellen. Dahin
scheint der Weg noch weit, solange die Türkei
gern zwischen der Nato und vorgespielter
Neutralität hin- und herschwenkt. 

Am Ende fällt auf, dass der Meister der
Polarisierung an diesem Tag so gar nicht
polarisieren will. Erdoğan und Steinmeier
konnten schon ganz anders: siehe die
Entfremdung nach dem Putsch in der Türkei
2016, der Eklat beim Staatsbankett in Berlin
2018, die Meinungsverschiedenheiten über Gaza
im November 2023. Diesmal braucht Erdoğan keinen
Krach und Steinmeier verlässt den
Palast ungeahnt entspannt. Über die ironische
Spitze beim gemeinsamen Essen können beide
lächeln. Erdoğan ließ überraschend die
Speisekarte umstellen. Es gibt Döner, aber den
klassischen türkischen. 



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