Ich breche auf zum Bahnhof Berlin-Gesundbrunnen und lasse die Musik von Feeling B durch meinen Kopf rauschen: »Ich such’ die DDR und keiner weiß, wo sie ist / Es ist so schade, dass sie mich so schnell vergisst«. Schade, ja. Aber natürlich liegt gerade darin das Unwiderstehliche an »unserer Deutschen Demokratischen Republik« – dass es sie nicht mehr gibt.
So ruht sie im ewigen Unfrieden und dient uns allen als übergroße Projektionsfläche: als liebstes Feindbild oder gemütlicher Sehnsuchtsort, für wohlig-ostalgische Gefühle oder klaustrophobische Angstträume, als Ansporn, es anders zu machen, oder als immerwährende Abschreckung vor derlei Experimenten, vor denen Konrad Adenauer uns schon vor fast 70 Jahren gewarnt hat.
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Einer der interessantesten Kristallisationspunkte für das rege Nachleben des Experiments DDR war die Berliner Volksbühne in den Jahren 1992 bis 2017 unter ihrem Intendanten Frank Castorf. Hier wurde unter Beweis gestellt, dass ein ausrangiertes Staatswesen nicht Tabula rasa heißen musste, sondern dass es so einiges Erhaltenswertes gab. Zum Beispiel die Dissidenz gegen staatliche Borniertheiten in den 80er Jahren, die noch nicht unter Wendehalsverdacht stehen musste und sich auch nicht in die Wiedervereinigungseuphorie einreihte.
Wer das Castorf-Theater aufsuchte, glaubte mitunter, der gesamte Arbeiter-und-Bauern-Staat sei nur von freigeistigen Intellektuellen bewohnt gewesen – und der Rest war nur Statisterie. Fiel von der großen Bühne am Platz, der nach Rosa Luxemburg heißt, das Wort Sozialismus, waren sich alle sicher, dass gewiss nicht der mit den Fehlern von gestern gemeint gewesen war.
Castorf, der bis heute den Prototyp des anpassungsunfähigen Ostintellektuellen verkörpert, hat der Volksbühne zu Weltbedeutung verholfen. Aber bevor er Leiter des Berliner Schlachtschifftheaters wurde, bevor er in Ost wie West gastierte, war er bereits jemand. Castorf hatte sein Publikum in der DDR – vielleicht nicht die wissbegierigen Massen, aber doch einige wache Zuschauer, die auf Kunst und Gesellschaft blickten und einen Zusammenhang ausmachen zu können glaubten.
Nach einem Studium der Theaterwissenschaft, ein paar Schritten als Provinzdramaturg, von offizieller Seite wenig geliebten Versuchen als Regisseur ließ man Castorf nach Vorpommern ziehen, wo er von 1981 bis 1985 als Oberspielleiter fungieren sollte. Nicht zum Rosa-Luxemburg-Platz im totsanierten Berlin (Ost) der Jetztzeit, sondern nach Anklam führt es mich vom Gesundbrunnen. Ich such’ die DDR und keiner weiß …
Gute zwei Stunden nordwärts geht es mit der Regionalbahn durch Landschaften in nicht allzu voller Blüte. Anklam beherbergt etwa 13 000 Einwohner. Dass die Hansestadt zu großen Teilen kriegszerstört wurde, merkt man heute nur mittelbar. Einzelne historische Bauten fügen sich zwangsweise mit den Neubauten der letzten Jahrzehnte zu einem Bild. Das eine oder andere Gebäude musste auch die oberflächlichen Fassadenerneuerungen der Jahrtausendwende über sich ergehen lassen. Und in den Häusern? Leerstand findet sich in bald jeder Straße.
Ungewöhnlich ist es für Städte, die sich ein eigenes Theater leisten, wenn dieses nicht aus Repräsentationsgründen im Zentrum steht. Das Theater Anklam, heute Sitz der Vorpommerschen Landesbühne, liegt am Rand und hat hier vielleicht auch deshalb etwas ungemein Fremdes.
Vom Bahnhof kommend, benötige ich knapp eine halbe Stunde, in der ich unter anderem den Stadtpark durchquere, der einige Ziegen beheimatet. Es ist eines der Kennzeichen von Städten dieser Größe, das sie nicht mehr ganz Land sind, obwohl sich auch der Eindruck des Urbanen bei bestem Willen nicht einstellen will.
Unmittelbar neben dem Fachwerkhaus, in dem Theatergeschichte geschrieben wurde, befindet sich eine Miniaturbaustelle. Leitungsarbeiten wahrscheinlich. Vor dem Gebäude steht ein Leuchtturm – maritimer Kitsch zur Standortbestimmung. Und an der Seite wiederum ein Hinweisschild, das auf die Rolle des Theaters im Zuge der »Wende« eingeht. Hier hatten die »Montagsgespräche« ebenso wie die »Runden Tische« ihren Platz.
Auch auf die unverhoffte künstlerische Entfaltung jenseits der Metropole wird kurz und knapp verwiesen: »Das Anklamer Theater erregte schon zu DDR-Zeiten Aufsehen. Der nach der Wende gefeierte Frank Castorf entwickelte hier seine avantgardistische Ästhetik und zog Berliner Publikum und Künstler an, die hier eine neue, zeitweilige Wirkungsstätte fanden.« Der Name Castorf ist überklebt, offenbar ist zuvor unbemerkt ein Fehler ausgerechnet an dieser Stelle unterlaufen.
Tritt man ein in das beschauliche Theater, auf dessen Spielplan dieser Tage leichte Unterhaltung à la »Ladies Night« steht, findet man im Foyer Bühnendevotionalien wie überall sonst auch. Auffällig ist aber ein übergroßes Porträt von Wolfgang Bordel. Der Physiker und promovierte Philosoph kam als Theaterliebhaber zur Bühne und übernahm 1983 als Intendant die Leitung des Hauses in Anklam. Er war ästhetisch und politisch der Gegenspieler zu Castorf und überdauerte am Theater Anklam bis 2019.
Sind denn wirklich alle Spuren des renitenten Regisseurs im Gebäude beseitigt? Theaterfotografien und -plakate zieren in großer Zahl die Wände. Ganz am Ende stößt man auf Castorfs Inszenierung von Henrik Ibsens »Nora«, seiner letzten Anklamer Arbeit, und auch auf Bertolt Brechts »Trommeln in der Nacht«, bei der er Regie führte.
Unter dem Plakat sind wie bei allen anderen Stücken einige Angaben gelistet. Wo in anderen Fällen das Premierendatum vermerkt ist, steht hier in Versalien: »ABGESETZT«. 40 Jahre ist es her, dass die Inszenierung auf die Bühne kommen sollte. Heute enthält man sich hier eines weiteren Kommentars zu der unwürdigen Angelegenheit.
Zu den Schauspielern, die auf dem Plakat für »Trommeln in der Nacht« aufgeführt sind, zählt auch Horst Günter Marx. Dass er, der zunächst die Rolle des Murk übernehmen sollte, nicht spielen würde, war nach zwei Probenwochen klar. Aus seiner Anklamer Theatwohnung wurde Marx von der Stasi verhaftet.
Als ich Horst Günter Marx, heute ein bekannter Film- und Fernsehschauspieler, anrufe, verabreden wir uns zu einem Gespräch im Café Savigny. Kurz darauf melde ich mich nochmals bei ihm, denn nicht nur die DDR existiert lediglich als Projektionsfläche weiter, sondern auch der alte Westen mit seinen Institutionen hat abgelebt. Das altehrwürdige Café Savigny in Berlin-Charlottenburg jedenfalls hat, ohne dass ich Notiz davon genommen hätte, bereits seit einigen Jahren geschlossen.
Wir verlegen unser Treffen in die Fasanenstraße und Marx erzählt auf ruhige und konzentrierte Weise von den 80er Jahren. Er entzaubert etwas die mythisch aufgeladenen Vorstellungen vom Theater Anklam, die etwa Autoren wie Matthias Matussek mit sehr westlichem Blick für ein westliches Publikum geprägt haben: Das Bild von der »Strafkolonie« und vom »vorpommerschen Sibirien« lässt sich nicht ohne Weiteres aufrecht erhalten.
Marx hat seine Ausbildung an der Staatlichen Schauspielschule Berlin 1981 absolviert. Es sei sein Wunsch gewesen, nach Anklam zu gehen, um dort unter Castorf zu spielen. Von Verbannung kann also nicht die Rede sein. Es war zunächst allerdings ein Wunsch, der ihm verwehrt blieb. Sein Erstengagement trat Marx am Theater Magdeburg an. Und er habe sich glücklich geschätzt, als er trotz dreijähriger Vertragslaufzeit bereits nach einer Spielzeit in den Norden der Republik wechseln konnte.
Anschaulich gibt Marx seine 40 Jahre zurückliegenden Eindrücke von der Stadt wieder, sehr plastisch sind auch seine Erinnerungen an die verschiedenen Theaterarbeiten. Er erzählt von den Premieren, zu denen das Publikum aus Berlin reiste. Von den Konfrontationen durch die Anklamer Bevölkerung. Als ich ihn nach »Trommeln in der Nacht« frage, gibt Marx zu, dass seine Erinnerungen in diesem Fall weitaus weniger klar sind. Sie verschwammen mit der Verhaftung.
Einige Woche vor Probenbeginn hatte er einen Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR gestellt. Das war kein Verbrechen, aber ein Haftgrund ließ sich dort konstruieren, wo er nicht vorlag. Nach den Proben wurde Marx aus seiner Wohnung abgeholt. Zwei Männer standen vor seiner Tür und gaben sich als Kriminalpolizisten aus, fuhren ihn zunächst nach Neustrelitz, wo noch in der Nacht eine halbtägige Vernehmung folgte. Dann ging es nach Berlin. 18 Monate war er inhaftiert, ehe er entlassen wurde und schließlich in den Westen ausreiste.
Wie es zu der Entscheidung gekommen sei, ausgerechnet Brechts »Trommeln in der Nacht« zu erarbeiten, frage ich Marx. Er lacht, da müsse ich Castorf fragen.
»Trommeln in der Nacht« ist das erste Stück des jungen Brecht, das auf die Bühne kam. 1922 an den Münchner Kammerspielen. Das Drama brachte ihm den Kleist-Preis ein. Stark unter dem Eindruck des Spartakusaufstands stehend, ist es ein vielschichtiges Werk. Anna Balickes Verlobter Friedrich Murk wird nach Kriegsende vermisst. Sie lässt sich auf Andreas Kragler, einen Kriegsprofiteur, ein, von dem sie ein Kind erwartet. Nachdem sie sich mit ihm verlobt, kehrt Murk zurück, der die kleinbürgerliche Ordnung aufzuschrecken droht. Von Anna abgelehnt, schließt er sich dem Aufstand an, bis diese Kragler doch für Murk verlässt. Der lässt für Anna allen revolutionären Eifer fahren.
Das Stück ist auch Zeugnis einer zwar stark politisierten, aber doch vormarxistischen Phase im Schaffen Brechts. Die Figur Kragler steht stellvertretend für die Revolutionsmüdigkeit nach dem Krieg. Womöglich ist es dieser Punkt, der dem Text im Kontext der 80er Jahre in der DDR eine zusätzliche Bedeutung verleiht.
Nach Marx’ Verhaftung musste Silvia Rieger, bis heute eine berühmte Volksbühnen-Aktrice, seine Rolle übernehmen. Das Spiel ging weiter, aber nur bis zur Generalprobe, bei der das Publikum des Saals verwiesen wurde. Die Premiere, die für den 7. April 1984 geplant war, kam nicht zustande, der Intendant Bordel ging Hand in Hand mit der Staatsmacht gegen seinen Oberspielleiter vor. Bald darauf verließ Castorf Anklam, und seitdem ist der Boulevard wieder zu Hause am hiesigen Theater.
»Schön braun« sei es, laut Castorf, damals gewesen in Anklam. Heute findet man in Bahnhofsnähe das »Haus Jugendstil«, in dem Die Heimat, ehemals NPD, ihre Landesgeschäftsstelle hat. »Die Heimat! schützen und verteidigen!«, steht über dem Eingang. Nicht erst seit gestern ist Anklam eine Nazi-Hochburg. Die wechselhaften Erscheinungsformen deutschen Wesens haben hier auch schon im Staatssozialismus gewütet.
Es kursieren viele Anekdoten darüber, mit welcher Feindseligkeit den Theatermachern um Castorf in jenen Jahren in Anklam begegnet wurde. In der Gaststätte »Am Steintor« kamen Einheimische und Künstler mitunter zusammen. Gelegentlich wurden wohl Schläge angedroht. Auch Marx spricht von der Absteige. Als Faxenmacher habe man sie bezeichnet. Er lacht und imitiert in norddeutschem Idiom die Sprüche von damals.
Ich suche die Gaststätte »Am Steintor« auf. Das Schild hängt noch, auch die Karte befindet sich noch im Schaukasten – Würzfleisch und Soljanka –, selbst im Internet wird mit neuen Öffnungszeiten geworben, aber hier geht keiner mehr ein oder aus. Die Buchhändlerin aus dem Geschäft gegenüber sagt, hier sei schon lange geschlossen.
Auf der Suche nach einem ebenbürtigen Etablissement stoße ich auf ein riesiges Werbeplakat: »Unser Weltkulturerbe« steht darauf. Nein, für die Theateravantgarde, die hier ihren Ursprung nahm und die darstellenden Künste für eine Zeit lang auf den Kopf gestellt hat, interessiert sich hier niemand. Geworben wird für »leckere Fischbrötchen« zu 3,50 Euro.
Es ist Zeit, nach Berlin zurückzufahren. Hier hat die Sozialdemokratie bereits vor Jahren Castorf vor die Tür gesetzt. Das Schicksal der Volksbühne ist nach dem Tod seines Nachfolgers René Pollesch, die zwei Kurzzeitintendanten seien hier verschwiegen, unklarer denn je. Ob hier noch einmal jemand die DDR sucht, bleibt zu bezweifeln. Von einem neuen Aufbegehren ohne falschen Moralismus darf man derzeit nur träumen.
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