Kiel. Reisen durch die ganze Welt – das ist für Wissenschaftler nicht unüblich. Außergewöhnlich aber ist, wenn die Forscher von ihren Reisen frische Stuhlproben der Landsleute mit nach Hause bringen und im Labor unter die Lupe nehmen – so wie die Mikrobiom-Forscher Mathilde Poyet und Mathieu Groussin von der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU).

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Ihre Mission: Den Kot entschlüsseln. Sachlich ausgedrückt: Sie wollen verstehen, wie die Vielfalt der Bakterien im menschlichen Darm mit dem Entstehen oder Fortschreiten von Krankheiten zusammenhängt. Und das wollen sie für möglichst viele Menschen herausfinden, egal aus welchem Teil der Erde sie kommen und wie sie leben. Das ist neu.

Bereits aus zahlreichen Studien bekannt ist, dass die Zusammensetzung der Bakterien im Darm, also das Mikrobiom, einen großen Einfluss auf Körper und Gesundheit hat. „Wir vermuten, dass die Änderung des Lebensstils in industrialisierten Ländern über die vergangenen Jahrzehnte dazu geführt hat, dass sich das Mikrobiom stark verändert hat“, sagt Professor Groussin. Die Wissenschaftler nehmen an, dass das mit dem globalen Anstieg von Krankheiten, wie chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Krebs und Diabetes, in Verbindung steht.

Forschung in Kiel an 1500 Stuhlproben aus 17 Ländern

Das Problem: Bisher basierten fast alle Forschungserkenntnisse und Therapieansätze auf Studien aus den USA, Europa oder China, sagt der französische Wissenschaftler. Für einen Großteil der Menschen auf der Welt, vor allem solche aus nicht-industrialisierten und ländlichen Regionen, seien sie deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit nicht anwendbar. „Das typische, gesunde Mikrobiom in Afrika oder Südostasien kann ganz anders aussehen, als das in Europa“, sagt Groussin. Wie genau? Dazu gibt es wenig Erkenntnisse.

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Poyet und Groussin wollen das ändern. Darum hat das Paar vor rund acht Jahren das Projekt „Global Microbiome Conservancy“ gegründet. Seitdem reisen sie viel durch die Welt und sammeln Stuhlproben von Völkern, die bisher in der Mikrobiomforschung unterrepräsentiert sind. Bereits 17 Länder haben sie auf ihren Forschungsreisen besucht, darunter Nigeria, Malaysia, Pakistan. Dort haben sie bereits mehr als 1500 frische Stuhlproben eingesammelt.

Freiwillige Stuhlproben: Tabuthema für viele Länder

Groussin erzählt, dass sie in ihrem Zielland Veranstaltungen auf Dorfplätzen oder in Gemeindezentren organisieren. Dort erklären sie der indigenen Bevölkerung mithilfe von Dolmetschern, woran sie forschen, warum sie das tun und was sie dafür brauchen. Nämlich eine Stuhlprobe.

In Europa und den USA sei es viel schwieriger, die Menschen zur Abgabe zu bewegen, denn für viele sei das ein Tabuthema. In den Zielregionen dagegen gäbe es viele Freiwillige, die gerne am Projekt teilnähmen, sagt Poyet. „Sie verstehen, warum das wichtig ist.“

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Kot-Proben aus aller Welt gehen per Spedition an CAU Kiel

Wie es weitergeht, kann, aber muss man sich nicht im Detail vorstellen: Die Projekthelfer bekommen eine Schüssel und verrichten ihr Geschäft. Poyet und Groussin entnehmen davon ihre Proben. Ein Teil der Proben bleibe im Land, damit auch die Wissenschaftler vor Ort von dem Projekt profitierten, sagt Poyet. Das sei ein wichtiger Teil ihrer Arbeitsethik.

Die restlichen Stuhlproben würden per Spedition nach Kiel geschickt – so ließen sich unangenehme Fragen am Flughafen vermeiden, scherzen die Forscher der CAU. In Wahrheit sei es ein großer bürokratischer Aufwand, die Proben nach Deutschland zu importieren, da sie potenzielle Krankheitserreger enthalten könnten, erklärt Poyet.

Experiment am UKSH: Bioreaktor ersetzt menschlichen Darm

In ihrem Labor in Kiel werden aus dem Kot die Darmbakterien isoliert und molekulargenetisch analysiert. Ein Ziel ist damit erreicht: Die Wissenschaftler bekommen einen Überblick, wie unterschiedlich die Mikrobiome der Menschen auf der Erde beschaffen sind.

Doch das ist nicht alles. Seit November 2023 experimentiert die Arbeitsgruppe in Schleswig-Holstein mit dem sogenannten Bioreaktor. Diese Apparatur, ein unüberschaubares Gewirr aus Schläuchen und Schraubgläsern mit verschiedenfarbigen Lösungen, stellt einen menschlichen Darm nach.

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Mikrobiom reagiert auf Medikamente und Ernährung

Labortechnikerin Hannah Jebens bringt eine Stuhlprobe mitsamt den darin enthaltenen Darmbakterien in den Bioreaktor ein. Es herrschten Bedingungen wie im echten Darm: Eine Temperatur von rund 37 Grad, ein pH-Wert zwischen 6 und 7, kein Sauerstoff, erklärt Jebens. „So fühlen sich die Bakterien wohl.“

Nun könne man alles Mögliche untersuchen, sagt Professorin Poyet. Beispielsweise, wie die unterschiedlichen Mikrobiome reagieren, wenn die Ernährung, hier eine Nährlösung, verändert wird oder Medikamente zufügt werden.

Mikrobiomforschung in Kiel: Krankheiten früh erkennen

Was wirkt sich positiv, was negativ auf die internationalen Darmbakterien aus? Wenn die Wissenschaftler diese Zusammenhänge besser verstehen, ergäbe sich das Potenzial, Krankheiten früh zu erkennen und Therapien zu entwickeln, sagt Poyet – und zwar für möglichst viele Menschen auf der Welt.

Dieser Text erschien zuerst bei den „Kieler Nachrichten“.



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