Diplomatie beginnt mit einer Beziehung zwischen zwei Regierungen. Das ist der Anfang von allem: wichtig, aber noch nicht alles. Eine wirklich zukunftsorientierte Außenpolitik bemüht sich immer auch um mehr, etwas schwerer Fassbares, aber auch Größeres: die Beziehung zwischen zwei Völkern.

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In diesem Sinn hat der deutsche Bundespräsident beim Auftakt seiner dreitägigen Türkei-Reise alles richtig gemacht. Statt wie üblich zuerst zum Palast des autokratischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nach Ankara zu eilen, nahm sich Frank-Walter Steinmeier Zeit für einen Aufenthalt in der weltoffenen Metropole Istanbul. Dort traf er prominente Politiker der Opposition, darunter den bei den jüngsten Kommunalwahlen gestärkten Bürgermeister der 15-Millionen-Metropole, Ekrem Imamoglu. In dem 52-Jährigen sehen viele schon den künftigen Präsidenten der Türkei.

Demonstrativer denn je reichte Deutschlands Staatsoberhaupt damit dem weltoffenen, reformorientierten Teil der Türkei die Hand. Wird Erdogan sich darüber ärgern? Gewiss. Doch Erdogan muss sich darauf einrichten, dass in nächster Zeit auch andere Staaten dem deutschen Beispiel folgen und ihre Nähe zur Opposition in der Türkei demonstrieren werden. Allzu lange hat die gesamte EU ihre Politik allein an Erdogan ausgerichtet und seinen immer neuen, teilweise exzentrischen Zuckungen. War es zum Beispiel weise, dass Erdogan den Nato-Beitritt Schwedens monatelange blockierte?

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Das Nato-Land im westlichen Lager halten

Die jüngsten Wahlen haben bewiesen, dass Erdogan und seine AKP weiter an Rückhalt verlieren, quer durchs Land, nicht nur in liberalen Metropolen wie Istanbul und Izmir. Sogar in ländlichen Gegenden öffnen sich immer mehr Türkinnen und Türken dem Gedanken, dass es Zeit sein könnte, ein neues Kapitel aufzuschlagen.

EU und USA müssen alles tun, um in dieser historisch wichtigen Phase den proeuropäischen und demokratisch eingestellten Türkinnen und Türken zu helfen. Nur so lässt sich verhindern, dass das für die Nato strategisch überaus bedeutsame Land eines Tages in eine radikalislamische Richtung kippt und sich dem von Russland und China geführten antiwestlichen Lager anschließt.

Im RND-Interview: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

„Putins Freunde wollen die Europäische Union zerstören“

Ursula von der Leyen zeigt dreimal klare Kante: Sie warnt im RND-Interview vor russischer Einflussnahme auf die Europawahl im Juni. Sie ermahnt das US-Repräsentantenhaus zu rascher Hilfe für die Ukraine. Und sie will die Datensammelei durch importierte Autos aus China näher unter die Lupe nehmen.

Niemand weiß, welche Windungen und Wendungen dem türkischen Staatschef noch bis zum Wahljahr 2028 einfallen. An schlechten Tagen droht Erdogan schon jetzt mit der Schließung von Nato-Basen auf türkischem Territorium.

Doch mehr denn je, darin liegt Trost, kollidiert Erdogans nationalistisches Tamtam mit den neuen soziokulturellen Realitäten in seinem eigenen Land. Unvergessen ist, wie Erdogan sich im vorigen Jahr dafür einsetzte, dass die Türkei nicht am Eurovision Song Contest teilnimmt. Für eine Teilnahme war dagegen laut Umfragen ein beträchtlicher Anteil der Türkinnen und Türken: 95,6 Prozent. Land und Leute sind liberaler und proeuropäischer als der autokratische Poltergeist an der Staatsspitze – der längst seinen Zenit überschritten hat. Diese neuen Stimmungen und Strömungen jetzt zu registrieren und zu unterstützen, ist in doppelter Hinsicht geboten: ethisch und strategisch.



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