Seit Dekaden hat sich kaum etwas getan, wenn es um Feminismus im Städtebau geht. In Wuppertal wollen nun einige das Betonzeitalter über­winden.

Ein Mann mit Hund schaut auf eine Schaufensterinstallation

Raum als Beziehungsgeflecht: Schaufensterinstallation „GOSSIP – Zuhören als Urbane Strategie“ vom fem_arc Kollektiv (Ausschnitt) Foto: © Duygu Atçeken

Wenn die Bundestagsabgeordnete Anja Liebert (Die Grünen) zum Bahnhof in Wuppertal-Barmen geht, nimmt sie den Weg mitten durch die Fußgängerzone, macht dabei noch einen Abstecher in die Drogerie und überquert brav die achtspurige Bundesallee erst, wenn die Fußgängerampel Grün zeigt.

Geht ihr erwachsener Sohn vom gemeinsamen Zuhause aus zum gleichen Bahnhof, wählt er einen anderen Weg. Der führt unter einer Brücke her, wo die Autos mit lärmenden 50 km/h fahren und gleich neben dem Bürgersteig der Eingang zum abschreckenden Parkhaus liegt. Danach nimmt er die Treppe runter zur Unterführung, die mit einem Kinderwagen oder Rollator ohne Hilfe unpassierbar wäre.

Anja Lieberts Rundgang durch Barmen zeigt, wie unterschiedlich Frauen und Männer die Stadt wahrnehmen und nutzen. Und dass sich Kinder, Menschen mit Behinderung und viele Weitere noch mal ganz anders in diesem autogerechten Teil von Wuppertal verhalten würden.

Wie Menschen Architektur nutzen, darin individuell agieren und interagieren, das produziert Raum zusätzlich zu dem, was Pla­ne­r:in­nen einmal in Beton oder Asphalt gießen ließen.

Die Stadt verstehen

Raum als ein Beziehungsgeflecht, so beschreibt es das Architekturkollektiv fem_arc aus Berlin. Deswegen sammelt fem_arc auch seit einigen Jahren Geschichten von Personen auf ihren Alltagswegen, etwa im Frankfurter Bahnhofsviertel oder am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Gossip nennen sie das, als positive Wendung eines abschätzigen Begriffs. Gossip hilft, die Stadt zu verstehen – feministisch zu verstehen.

Schaut man sich die Statistiken an, auf die sich Liebert beruft, fällt auf, dass die Nutzung des städtischen Raums nach Geschlechtern aufgeteilt ist. „Frauen legen kürzere, aber viel vernetztere Strecken zurück“, sagt Liebert.

Während Männer meistens mit dem Auto zur Arbeit und zurück fahren, nutzen Frauen mehr die Öffentlichen oder gehen zu Fuß. Auf dem Weg zum Job bringen sie noch das Kind in die Kita, springen in die Apotheke oder geben ein Päckchen auf, auf dem Rückweg setzen sie den Nachwuchs beim Turnen ab und kümmern sich dann um die Großmutter.

Dass vornehmlich Frauen die Städte für reproduktive Arbeit nutzen, beobachtete man schon vor 40 Jahren. Da hat sich offenbar nicht viel geändert. Auch, dass es für Frauen in der Stadt bedrohliche Orte gibt – die Fußgängerunterführung bei Nacht ist wohl das bekannteste Bild dafür.

Vermittlung von Bedrohung

Heute fragt man sich, ob es wirklich der Ort oder die Vermittlung ist, die diese Bedrohung hervorruft. Schon Mädchen wird klargemacht, dass sie zu gewissen Zeiten und an bestimmten Stellen der Stadt Angst haben sollten.

Das beschreibt auch die kanadische Geografin sowie Umwelt-, Frauen- und Geschlechterforscherin Leslie Kern in ihrem Buch „Feminist City“, dessen deutsche Übersetzung der Unrast Verlag gerade in dritter Auflage herausgegeben hat.

Kern schreibt in eindringlicher Weise, die dem angloamerikanischem Diskurs eigen ist: „Die Angst von Frauen hat die soziale Funktion, Frauen zu kontrollieren. Angst schränkt das Leben von Frauen ein“, sie hält Frauen in der Abhängigkeit von Männern.

Anja Liebert ist Mitglied im Bundestagsausschuss für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen. Sie nennt ein weiteres Problem in Städten: Zwei Drittel aller Autos sind auf Männer zugelassen, nur ein Drittel auf Frauen – Mobilität muss eben auch verfügbar sein.

Mehr Frauen in Ämtern

„Das heißt, dass der öffentliche Nahverkehr ausgebaut und Städte mit kurzen, barrierefreien Wegen ausgestattet werden müssen“. Dafür braucht es mehr Frauen, die sich an der Stadtplanung beteiligen, sowohl in den Ämtern als auch über Bürger:innenbeteiligungen.

„Da sitzen unheimlich viele Männer!“, weiß Liebert. Und die arbeiten nicht immer familienfreundlich, was Frauen schnell ausschließt. Der Sexismus der Stadt, er entsteht also durch den Sexismus der Arbeit.

Die Wuppertaler Architektin Isabella Rosenkaymer nennt ein weiteres Beispiel für Sexismus in der Architektur. Sie hat im Studium noch ihre Entwürfe nach Le Corbusiers Modulor ausrichten müssen. Der einflussreiche Modernist entwickelte den Modulor an einem Mann mit einer Körpergröße von 1,83 Metern, für seinen Komfort legte Le Corbusier Zimmerhöhe, Gänge oder Türen aus.

Und auch für den Städtebau der deutschen Nachkriegsmoderne war der erwerbstätige Standardmann das Maß aller Dinge, etwa als man Wuppertal in den 1960er Jahren nach dem Vorbild der funktionalen Stadt mit großen Autoachsen, Fußgängerzonen im Zentrum und Wohngebieten am Rand ausbaute.

Lektüre von „Feminist City“

Isabella Rosenkaymer ist im Vorstand der Architektinnenini­tiative, die Frauen in dem Beruf unterstützt. Mit ihren Kolleginnen nahm sich Rosenkaymer auch Leslie Kerns „Feminist City“ vor. „Sie schreibt über meine Jugend“, sagt Rosenkaymer.

Vor allem, wenn Kern berichtet, wie Mädchen die Stadt eher als Beobachterinnen nutzen, sie auch an ordentliche Toi­let­ten in der Nähe denken müssen, nachts auf dem sichersten Weg mit Schlüssel in der Faust und Handy am Ohr nach Hause eilen. Mit den Beschreibungen von Kern im Hinterkopf fühlen sich Städte für Frauen mitunter gefährlicher an als vorher.

Wie man es richtig machen kann, zeigt sich für Isabella Rosenkaymer in Wien, wo die Obersenatsrätin Eva Kail das Gender-­Mainstreaming in die Stadtplanung verankert hat. In dem aktuell größten Stadtentwicklungsprojekt Europas, der Seestadt Aspern, bewirkte Kail, dass es Stellplätze für Kinderwagen in den Gebäuden gibt, Räume zum Spielen autofrei bleiben, Mehrfamilienhäuser mit Büros und Cafés gleich um die Ecke sind.

Kail ließ in Aspern die obsolete funktionale Stadt durch gemischte Nutzungen aufweichen. Das bedeutet: Gehwege und Infrastruktur liegen in einem kleinen Radius rund um die Wohnung. Solch eine feministische Stadtplanung ist auch inklusiv: „Wenn wir Barrieren wegnehmen, nützt das allen“, sagen Rosenkaymer und Liebert.

Zwei Frauen schauen über einen Fluß auf das andere Ufer.

Schöne Aussichten: Frauen bauen Stadt Foto: Ernst Weingartner/imago

Und inklusive Räume sind komfortable Räume. Auf diese einfache Formel brachte es kürzlich der Umweltpsychologe Todd Brown in einem Podcast des Onlinemagazins Failed Architecture über „Discomfort“ im öffentlichen Raum herunter. Brown forscht an der University of Texas in Austin daran, wie in den von Segregation und Diskriminierung geplagten US-Städten Orte der Gemeinschaftlichkeit entstehen können.

Die zehn goldenen Bänke, die seit einem Jahr in der Wuppertaler Fußgängerzone stehen, können solch komfortable Orte sein. Der Steuerzahlerbund echauffiert sich zwar öffentlich über die 400.000 Euro Kosten für die überschuldete Stadt, doch das Gold für alle funktioniert: Bei gutem Wetter sind die Bänke voll mit Leuten. Sie bieten „Aufenthalt ohne Konsumzwang“, so Liebert. Würde mehr Komfort an öffentlichen Orten entstehen, wären mehr Frauen an den Planungen beteiligt?

Auch der private Bereich von Architektur, das Wohnen, könnte umgedacht werden. Schon 1981 stellte die heute emeritierte Architekturprofessorin Dolores Hayden fest, dass in den USA 13 Häuser nicht 13 Gärten, 13 Sitzgarnituren und 13 Rasenmäher brauchen.

In ihrem noch immer relevanten Essay „Wie könnte eine nicht-sexistische Stadt aussehen?“, fordert sie, dass Wohnen, Arbeiten und Einkaufen räumlich verknüpft werden sollte. Doch das Einfamilienhaus ist immer noch das „Standardmodell des deutschen Eigentums“, wie Anja Liebert es nennt.

Überholtes Wohnmodell

Ein unsinniges, geradezu antiökologisches Modell, dessen Planung auf nur 20 Jahre angelegt ist (denn danach ziehen die Kinder einer Familie wieder aus) und mit der typischen Kleinfamilie eine Planungsvorlage nutzt, die längst überholt ist und alternative Lebensweisen außen vor lässt.

Statt Eigentum und Vereinzelung im suburbanen Einfamilienhaus bräuchte es in der Stadt Wohnmodelle der Kooperation. Vergessen scheint, dass es in New York um 1900 – zu einer Zeit, in der der Massenwohnungsbau gerade begann – auch Apartmenthäuser mit großen Gemeinschaftsküchen gab. Frauen konnten die Hausarbeit an die gemeinschaftliche Organisation auslagern und arbeiten gehen, die Wohnungen ohne individuelle Küche flexibler genutzt werden.

Solche Überlegungen tauchen heute im Wohnungsbau wieder auf, aber nur in vereinzelten Nischenprojekten. Beim genossenschaftlichen San Riemo in München etwa, ein Wohnbau mit gemeinschaftlichen Wirtschaftsflächen und veränderbaren Wohnungsgrundrissen.

Das Leipziger Architekturbüro Summacumfemmer war auch an dem Entwurf von San Riemo beteiligt. Im März wurde Summacumfemmer von der Berliner Akademie der Künste mit dem Preis für Baukunst ausgezeichnet, nicht zuletzt wegen des progressiven Wohnmodells von San Riemo.

Politikerin Anja Liebert und Architektin Isabella Rosenkaymer wollen in Wuppertal überhaupt erst einmal Feminismus und Stadt zusammenbringen. Da geht es noch gar nicht ums Bauen, sondern ums Denken und Planen. Um Austausch, ums Vernetzen, vielleicht um Gossip über goldene Bänke und Unterführungen zu achtspurigen Straßen.



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