Eine Ausstellung in Berlin und ein großer Bildband widmen sich der Familie Franz Kafkas. Sie legen eine neue Sicht auf den Klassiker nahe.

Franz Kafka mit Hut und Mantel (re) steht lächelnd mit vier Frauen auf einer Wiese

Franz Kafka rechts, in der Mitte Schwester Ottla Foto: Archiv Wagenbach/Kafka Family Archive Prague

Franz Kafka ein Familienmensch, ja geradezu der Mittelpunkt seiner Familie? Diese These verblüfft. Das Kafka-Klischee des hilflosen Einzelgängers, Junggesellen und Sonderlings in den Mühlsteinen von Bürokratie und Moderne ist zwar wahrscheinlich unausrottbar, aber längst durch Forschungen konterkariert, die den realen Autor alltäglicher verorten: Kafka konnte lachen, war weltoffen, hatte Beziehungen.

In diese Verlebensweltlichung des Klassikers passt die Familienmensch-These noch gut hinein. Doch was ist mit den vielen Stellen in seinem Werk, in denen die Familie schlecht wegkommt, was mit dem „Brief an den Vater“, in dem er seinen Vater als Patriarchen zeichnet, was mit Briefstellen, in denen er schreibt, dass er „fremder als ein Fremder“ in seiner Familie lebt?

Der Kafka-Forscher Hans-Gerd Koch stellt die These von Kafka als Familienmensch jetzt im Vorfeld des 100. Todestags des Autors am 3. Juni auf. In der Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden gibt es eine mate­rial­reiche Ausstellung dazu, im Wagenbach-Verlag ist ein sorgfältiger Fotoband erschienen. Mit vielen Familienfotos – erst noch offiziös beim Fotografen aufgenommen, mit der Entwicklung der Fototechnik kommen Schnappschüsse hinzu – und vielen Briefstellen kann Koch seine These gut stützen.

Tatsächlich tritt einem hier ein fröhlich miteinander kommunizierender Kosmos einer assimilierten jüdischen Familie entgegen, und Franz Kafka befindet sich mittendrin. Auf Ausflügen, Urlaubsreisen und Kuraufenthalten werden Fotos geschossen und Postkarten geschrieben. Vom Vater Hermann Kafka, der sich aus ländlichen Verhältnissen ins Bürgerliche hocharbeitet, gibt es warmherzige Aufnahmen.

Auf einem Bild sitzt er, Hut und Stock neben sich, kurzerhand auf dem Rasen. Und die Onkel mütterlicherseits, die in Südamerika, Madrid und Paris leben und ihre Prager Verwandten regelmäßig besuchen, bringen Weltläufigkeit hinein. Das ist jedenfalls keine enge, herrische Kleinfamilie, die sich hier präsentiert.

Familie wird hier gelebt

Sowohl die Ausstellung als auch das Buch bieten so die Gelegenheit, alles, was man über Hungerkünstler und Verwandlungen, Gerichtsdiener und endlose Prozesse, Maulwürfe und sprechende Mäuse über diesen Autor gehört hat, einmal beiseite zu legen und in den Kreis einer weitläufigen Familie aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts einzutauchen.

Toll etwa Bart, Zigarettenhaltung und offener Blick von Kafkas Onkel Rudolf Löwy. Wie Kafkas Nichten zusammen mit seiner Schwester Ottla ihren Onkel auf einem Motorrad durch den Schlamm schieben, könnte aus einem aktuellen Fotoalbum stammen. Schlittenfahrten gibt es und einen Franz Kafka, der sich im Sanatorium ausdrücklich für seine Eltern lächelnd fotografieren lässt.

Klar, hier wird Familie teilweise inszeniert, zu einem guten Teil wird sie hier aber auch gelebt. Auch wenn auf fast allen Aufnahmen die Personen stets direkt nebeneinander auf die Kamera ausgerichtet sind – dass sie auch untereinander kommunizieren, sieht man kleinteilig an der Körpersprache und den Augen.

In seiner großen Kafka-Biografie hat Reiner Stach von einer „autoritär organisierten Familie“ geschrieben. Das muss zur emotionalen Lebendigkeit, die einem jetzt bei Hans-Gerd Koch entgegenkommt, nicht unbedingt im Gegensatz stehen. Die emanzipativen Spielräume für Kafkas Schwestern waren eng, und der oberste Hemdknopf bei den Herren blieb – bis auf die Aufnahmen, die am Strand entstanden – durchgehend geschlossen.

Herausgestemmt aus der Herkunft

Aber innerhalb dieser Familienorganisation gab es offensichtlich Lücken, freie Momente, Hohlräume für Austausch und tatsächliches Interesse aneinander. Von Unterdrückung, gegenseitiger Verachtung und kleinfamiliären Machtverhältnissen à la „Das weiße Band“ von Michael Hane­ke sind diese Aufnahmen meilenweit entfernt. Zu den gegenwärtig vielfältigen autofiktionalen literarischen Ansätzen von Autor*innen, zu ihren eigenen Eltern ein gerechtes Bild zu finden, passen sie dagegen gut. Vielleicht musste erst das Zeitalter der herrischen Generationskonflikte zu Ende gehen, um so einen neuen Blick auf Kafkas Familie werfen zu können.

Franz Kafkas literarischer Rang bleibt bei alledem selbstverständlich unberührt. Nur kann man wieder einmal feststellen, dass Literatur keineswegs eins zu eins mit der Realität aufgeht. Schreibend hat sich Kafka immer wieder aus seiner Herkunft herausgestemmt, aber nun lässt sich sehen, dass er sich von ihr auch immer wieder halten lassen hat.

Am Schluss vermitteln sowohl das Buch wie die Ausstellung einen Schock. Viele Familienmitglieder Franz Kafkas, unter anderem seine drei Schwestern, starben im KZ.



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