Dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer wird der Ausspruch zugeschrieben: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“. Das hat er aber wohl nie wirklich gesagt. Belegt ist hingegen sein Zitat, es könne ihn niemand daran hindern, „wat klüger“ zu werden. In diesem Sinne ist Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zu einem Erkenntnisfortschritt zu beglückwünschen. Denn was sie im vergangenen Sommer noch als „Ultima ratio“, als letztes Mittel, gegen illegale Einwanderung darstellen ließ, feiert sie nun geradezu als Allheilmittel: Kontrollen der bundesdeutschen Grenzen mit Schengen-Partnerstaaten.
Faeser: „Mehr erreicht als Union in 16 Jahren“
Seit Start der Kontrollen im Oktober, so die Ministerin in einem Interview der Funke Mediengruppe, seien mehr als 700 Schleuser festgenommen und 17.600 unerlaubte Einreisen verhindert worden. Auch die Zahl der Asylanträge sei gesunken.
Diese Erfolgsbilanz der von ihr nach langem Zögern schließlich doch eingeführten temporären Kontrollen an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz (an der bayerischen Grenze mit Österreich bestehen sie seit Längerem) verband Faeser mit dem Seitenhieb auf CDU/CSU: „Wir haben so in den letzten Monaten mehr erreicht als die Union in 16 Jahren.“
Union: Faeser brauchte ein Jahr Bedenkzeit
Diese letzte Äußerung gehört in die Kategorie „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.“ Denn es war eben jene Union gewesen, die Faeser in einem Bundestagsantrag aus dem Februar dieses Jahres daran erinnert hatte: „Seit dem 11. Oktober 2022 fordert die CDU/CSU-Fraktion die Einführung von Grenzkontrollen, nachdem die Zahlen der unerlaubten Einreisen zunächst an der tschechischen Grenze, später auch zu Polen und zur Schweiz sprunghaft angestiegen sind.“
Die Ministerin, so hieß es im Antrag weiter, habe ein geschlagenes Jahr gebraucht, um die Notwendigkeit solcher Maßnahmen einzusehen. Diese Bedenkzeit habe sich in mehr als 100.000 unerlaubten Einreisen niedergeschlagen. Was sie einst als „reine Symbolpolitik“ abgelehnt habe, sei Faeser auch nur halbherzig geraten: Sie habe die Grenzkontrollen kürzlich nur um drei Monate verlängert, obwohl nach EU-Recht bis zu sechs möglich wären.
Von „Ultima ratio“ zum Meinungswandel
Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil im Juni in Deutschland die Fußball-Europameisterschaft stattfindet, für die Faeser ohnehin ein strengeres Grenzregime angekündigt hat. „Offenbar hat die Bundesministerin Faeser ihre Abneigung gegen Grenzkontrollen noch immer nicht abgelegt“, mutmaßten CDU und CSU. Die Ministerin selbst tut nun aber so, als habe sie entschlossen für einen Durchbruch im Kampf gegen das Menschenschleppertum gesorgt.
Doch noch Anfang August vorigen Jahres gehörte der Begriff „Ultima ratio“, letztmöglicher und nicht leichtfertig einzuschlagender Weg, zum Repertoire der Kommunikationspolitik des Faeser-Ministeriums, wenn es um Grenzkontrollen ging.
Einsicht ja, Demut nein
Wat klüger geworden? Vermutlich. Ein wenig mehr Demut stünde Faeser trotzdem gut zu Gesicht. Denn das „Geschwätz von gestern“ ist dokumentiert.
Faeser hält sich zugute, „auch als Politikerin ganz normale Bürgerin geblieben“ zu sein. Als solche hat sie jedes Recht auf Meinungskorrekturen. Als Politikerin zeigt sie mit ihrem Kurswechsel Einsichtsfähigkeit. Ihn nach der langen Vorlaufzeit dann in der jetzigen Form selbst zu beklatschen, lässt jedoch Stilsicherheit vermissen.