Ich mag keine
Gesellschaftsspiele. Vor allem Brettspiele meide ich um jeden Preis. Neulich
jedoch, bei einem Treffen im Haus eines neuen Freundes, wurde ein Brettspiel
mit einem solchen Tamtam auf den Tisch gelegt, dass es mir dann doch unpassend
erschien, nicht mitzumachen. Das Spiel hieß Secret Hitler

Es ist ein Gesellschaftsspiel
über den Faschismus
, meine Freundinnen und Freunde in der westlichen
Welt – Deutsche, Franzosen, Amerikaner – haben seit einem Jahr ihre Freude daran. Als
sie mir Neuling die Regeln erklärten, waren sie zu schnell und nicht
detailliert genug. Offenbar vertrauten sie voll und ganz auf mein Wissen über
den Faschismus, wahrscheinlich weil ich ein Buch darüber geschrieben habe. Es
schien sie nicht zu stören, dass ich dieses Spiel damals in der Türkei
verloren hatte, auf spektakuläre Weise und mit hohem und sehr realem Einsatz.

Eine kurze Einführung
für diejenigen, die sich für das Faschismus-Spiel interessieren: Es beginnt
damit, dass die Mitspielerinnen und -spieler aus verschlossenen Umschlägen
Parteikarten ziehen. Sie sind dann entweder ein Liberaler oder ein Faschist, niemand kennt die politische Identität der anderen Spieler. Ein Mitspieler erhält
die Hitler-Karte und hält das geheim. Bevor das Spiel beginnt, schließen alle
ihre Augen, dann öffnen nur die Faschisten sie wieder, um sich gegenseitig zu sehen. Anschließend
gibt es eine weitere Runde mit geschlossenen Augen und die Faschisten geben Hitler ein Handzeichen,
damit er weiß, wer in seinem Team ist. 

Das folgende Spiel besteht aus Raten
und Manipulation, um liberale oder faschistische Gesetze zu verabschieden
und das Land zu regieren. Wenn ein Team genug Gesetze der eigenen politischen
Richtung verabschiedet, hat es das andere Team besiegt. Aber anders als im
wirklichen Leben halten sich die Faschisten an Regeln, und sowohl Sieg als
auch Niederlage sind eine klare Sache.

Wenn man so
schlecht im Spielen ist wie ich, muss man wissen, wann und wie man den Tisch
verlässt, um nicht als Spielverderberin abgestempelt zu werden. Ich zwang
mich also zu einer Runde, legte dann aber vor der zweiten Runde mein
Parteibuch offen auf den Tisch und verdarb allen das Spiel. “Dieses Spiel
ist unsinnig”, sagte ich, “und ich spiele nicht mehr mit.” Meine faschistischen
Kollegen taten verzweifelt, die Liberalen jammerten “Ach, komm
schon”. Da musste ich offen sagen: “Es tut mir leid, aber das Spiel beruht
auf einem historischen Fehler: Als gäbe es nur Liberale, und als komme der Faschismus dann, wenn alle die Augen offen haben.” 

Ein Freund stellte fest, was längst klar war: “Meine Liebe, du nimmst das Spiel zu ernst.” Das tue ich gewiss. Denn wenn ein paar Erwachsene ein Spiel aus unserem Leben machen, endet das in völliger
Dunkelheit. Heute tut Europa so, als erinnere es sich nicht an diese Tatsache und es spielt mit, um kein Spielverderber zu sein.

In wenigen Tagen werden
die Rechtsextremen im Europäischen Parlament höchstwahrscheinlich die Position der Königsmacher haben. Bei paneuropäischen
Rechtsextremisten-Gipfeln sah es bereits so aus, als könnten sie als einheitliche Front in
der politischen Institution agieren, die bestimmt, wie sich Europa
im kommenden Jahrzehnt entwickeln wird. Sie nennen sich nicht selbst Faschisten, wie beim Spiel Secret Hitler, aber für Erwachsene mit offenen Augen
sind einige solcher Eigenschaften leicht erkennbar. 



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