Das, was Menschen jeden Tag für sich und andere tun, kann als Energie bezeichnet werden. Aber wie kann man die in politische Prozesse übertragen?

Eine Person in einer Menschenmenge hält ein Schild mit der Aufschrift

Foto: Stefan Boness/Ipon

Was wäre, wenn wir Energie und Schnelligkeit einen größeren Raum geben würden in der Art und Weise, wie wir Demokratie praktizieren? Und damit verbunden die Frage: Was meinen wir, wenn wir Demokratie sagen? Ist Demokratie der Prozess, mit dem wir die Machtverteilung klären in diesem Land oder auf diesem Kontinent? Oder ist Demokratie mehr? Ist es eine Form des Lebens, des Agierens, des Miteinanders? Und wenn Demokratie eine Lebensform ist, wieso werden Energie und Schnelligkeit systematisch ausgebremst?

Es geht dabei um mehr als nur die oberflächliche Betrachtung dessen, was Energie und Schnelligkeit sind: ein Mensch, der einen Raum betritt, mit Witz, mit Verve, mit einer Vision, die anderen zu begeistern, die Dinge zu hinterfragen, Verbindungen zu sehen oder zu schaffen, die andere nicht sehen, die Lust auch, andere mitzunehmen, zu motivieren, eine Richtung zu zeigen, etwas zu wagen, an das sie bislang nicht gedacht haben. Das ist die Energie von Menschen – kann und soll man sie in politische Prozesse übertragen?

Energie, wenn man sie nicht oberflächlich betrachtet, ist mehr als das Charisma, das nicht nur in Deutschland mehr und mehr aus dem politischen Prozess verloren gegangen ist. Dafür gibt es einerseits historische Gründe, die Angst vor dem charismatischen Herrscher, und es ist richtig, diese Lektion gerade deutscher Geschichte nicht zu vergessen. Dafür gibt es aber auch andere Gründe, die mehr mit der Natur dessen zu tun haben, wie Demokratie heute oft gesehen oder praktiziert wird, als Abfolge von Entscheidungen, für die am Ende keiner mehr die Verantwortung zu übernehmen scheint.

Energie im Austausch

Energie also hat auch etwas mit dieser Verantwortung zu tun. Energie bedeutet, Ich zu sagen in einer Zeit, in der es riskant scheint, sich auf etwas festzulegen. Energie heißt aber auch die Neugier, sich für die Veränderung zu öffnen, die sich automatisch ergibt, wenn man sich festlegt. Energie ist also der Austausch, ist im systemischen Denken die Kraft, die es allen gemeinsam ermöglicht, die Dinge neu und anders zu sehen und gemeinsam zu gestalten. Nur im Austausch bleibt Energie demokratisch.

Warum spiegelt sich die Begeisterung der Menschen für Europa nicht in der Art und Weise, wie Europa regiert wird?

Umgekehrt verliert die Demokratie an Wirkung und Überzeugung, wenn sie nicht von Energie getragen wird. Wenn es nicht Menschen gibt, die mit Leidenschaft und Hingabe ihre Vorstellungen eines besseren Zusammenlebens für alle verfolgen würden. Das ist keine Trivialität. Das ist das, was die Demokratie ausmacht, jenseits von Wahlen und Verwaltung und dem Funktionieren des Staates. Die Herausforderung wäre es, das System der Demokratie so zu verändern, dass Energie spürbar wäre, als individuelle Möglichkeit, als gesellschaftliches Versprechen.

Das würde alle Ebenen der demokratischen Praxis betreffen: Wie etwa kann die Verwaltung so verändert werden, dass Eigeninitiative, Experimentieren, der Wettbewerb der Ideen gefördert werden können? Wie kann eine Durchlässigkeit geschaffen werden jenseits von etablierten Karrieremustern? Wie kann sich Energie mit der Schnelligkeit von Entscheidungen verbinden, die erst einmal auch das Risiko bergen, dass sie scheitern? Wo ist der Raum also in einem Prozess, der zum Teil aus guten Gründen das Scheitern vermeiden will, für Fehler, für Sprints, die auch mal ins Nichts führen?

Das Modell des Staates ist oft das einer Maschine, die funktioniert, die berechenbar ist, wo ein Rad ins andere greift, Schule, Straßenreinigung, Polizei. Aber das Scheitern ist ja nicht das Gegenteil des Funktionierens. Eine Gesellschaft lebt nicht im Entweder-oder. Eine Gesellschaft lebt von Widersprüchen, Konflikten, Zwischentönen, von Diversität in den Ansichten und Ansätzen, und die Grundlage von vielem ist hier der Antrieb, die Energie der Einzelnen, die dem System erst die Gestalt gibt.

Routine einer Demokratie

Wenn die Maschine aber vor allem auf das Funktionieren ausgerichtet ist, wenn es darum geht, erst einmal das Scheitern zu vermeiden, dann unterbricht man den Energiefluss, der sie eigentlich antreibt. Dann trennt man die Maschine der Demokratie vom Leben der Menschen. Dann stellt sich die Frage, ob die Demokratie als Maschine gedacht die richtige Idee ist. Oder ob die Demokratie nicht mehr ein Körper ist oder ein Organismus, der lebt und für den Prinzipien und Prämissen gelten, die auch für das Leben gelten.

Gerade, im schleppenden Wahlkampf für die Europawahl, sehen wir das wieder, die Routine einer Demokratie, die sich eher durch Routine, Distanz, Kalkül und Taktik definiert als durch Offenheit, Sichtbarkeit, Zuneigung, Energie im Empfinden und Erleben. Der Wahlkampf, so gut wie jeder Wahlkampf, folgt dieser Logik, verwendet diese Sprache. Vielleicht muss es so sein, darauf scheinen wir uns geeinigt zu haben. Aber muss das so sein?

Europa etwa ist ja eine grandiose Idee – wann hat sich diese Idee in eine Abfolge von Entscheidungen verwandelt, die immer weniger Menschen begeistert?

Oder umgekehrt, warum findet sich die Begeisterung der Menschen für das, was Europa ist, nicht in der Art und Weise gespiegelt, wie Europa regiert wird? Die Frage geht über das hinaus, was als demokratisches Defizit der Europäischen Union seit Langem diskutiert wird – und was schlimm genug ist. Dieses Demokratiedefizit aber wird immer noch an der Art von Demokratie definiert, die wir kennen. Der eigentliche Schritt wäre es nun, diese Idee noch einmal zu verwandeln, mit Leben zu erfüllen, in der Praxis, im Ausprobieren, mit eigener Energie.

Es sieht gerade nicht danach aus, die Rechten scheinen zu gewinnen; aber umso wichtiger, dass wir daran arbeiten, wie wir uns die Demokratie zurückholen können. Wir brauchen Ideen für die Zeit danach, und wir können sie heute schon leben.



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