Die europäische Schuldenbremse ist zurück: In den kommenden Jahren zwingen Vorgaben aus Brüssel die Regierungen einiger der größten EU-Staaten zum Sparen. Die Europäische Kommission hat am Mittwoch erstmals seit Beginn der Pandemie wieder Verfahren gegen Mitgliedstaaten mit hohen Schuldenständen und Haushaltsdefiziten eingeleitet. Damit stellt sie die Höchstgrenzen für die Staatsfinanzen in der EU allmählich wieder scharf, nachdem sie fast vier Jahre ausgesetzt waren. EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni sprach von einem „neuen Zyklus“, in den die europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik jetzt eintrete.

Vor allem Frankreich steht diesmal im Fokus, das seinen Haushalt aus Sicht der Kommission dringend in Ordnung bringen muss. Unabhängig vom Ausgang der Nationalratswahl Ende Juni stehen in den kommenden Jahren harte Auseinandersetzungen zwischen Paris und Brüssel bevor.

Im Frühjahr hatte die EU-Staaten neue Stabilitätsregeln beschlossen, die von 2025 an gelten sollten. Sie geben den EU-Staaten einerseits mehr Spielraum beim Abbau ihrer Defizite und sollen andererseits – anders als früher – strenger durchgesetzt werden. Mit den neuen Defizitverfahren stehen diese Vorgaben vor ihrem ersten Realitätscheck. Für die Gesamtverschuldung gilt dabei nach wie vor eine Grenze von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung, die Neuverschuldung darf nicht höher liegen als drei Prozent. Frankreich ist mit mehr als 110 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verschuldet und erwartet ein Haushaltsdefizit von mehr als fünf Prozent in diesem Jahr.

Teure Wahlversprechen können sich weder Präsident Emmanuel Macron noch die rechtsextreme Partei Rassemblement National oder das linke Lager leisten, die um die Machtverteilung im Nationalrat konkurrieren. Macron hatte am Abend der Europawahl überraschend vorgezogene Parlamentswahlen ausgerufen, woraufhin Frankreich an den Finanzmärkten unter Druck geraten war. Die Zinsen auf französische Staatsschulden und die Versicherungsprämien für einen Zahlungsausfall des Landes waren empfindlich angestiegen.

Bei Verstößen gegen die EU-Sparvorgaben drohen Geldstrafen

Eine neue Schuldenkrise stehe noch bevor, sagt Daniel Kral, Ökonom der Analysefirma Oxford Economics. Aber man sehe, dass die Märkte als Richter über die Staatsfinanzen zurück seien. Und: „Eine Kollision mit Brüssel über den finanzpolitischen Kurs scheint unvermeidlich“, sagt Kral. Ökonomen der Brüsseler Denkfabrik Bruegel zufolge wird Frankreich seine staatlichen Ausgaben in den kommenden sieben Jahren um etwa 0,54 Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr senken müssen, was 2024 etwa 15,7 Milliarden Euro entspräche. Bei Verstößen gegen die EU-Sparvorgaben drohen Geldstrafen.

Solche Auseinandersetzungen stehen auch anderen Hauptstädten bevor. Neben Frankreich bescheinigte die Kommission Italien, Polen, Belgien, Ungarn, der Slowakei und Malta „exzessive Defizite“. Dieses Urteil basiert auf detaillierten Länderanalysen, welche die Behörde regelmäßig vorlegt, und ist der erste Schritt hin zu Defizitverfahren. Über diese soll der Rat der Mitgliedstaaten Mitte Juli entscheiden. Daraufhin wird die Kommission im November Empfehlungen zum Abbau der Defizite vorlegen. Im Lichte der neuen EU-Schuldenregeln „erwarten wir von den Mitgliedstaaten nationale finanzpolitische Strukturpläne, die Schulden und Defizite abbauen und den heutigen Empfehlungen Rechnung tragen“, sagte Kommissions-Vizepräsident Valdis Dombrovskis.

Als zweites großes Euro-Land steht Italien unter besonderer Beobachtung. Auch Rom arbeitete seit 2020 mit einer jährlichen Neuverschuldung weit jenseits der drei Prozent. Die Kommission rechnet mit einem italienischen Haushaltsdefizit von 4,4 Prozent in diesem und 4,7 Prozent im kommenden Jahr. Die Gesamtverschuldung liegt mit annähernd 140 Prozent der Wirtschaftsleistung mehr als doppelt so hoch wie vorgeschrieben. Italien sei anfällig, warnt die Kommission in ihrem Bericht, „vor allem wegen der hohen Staatsverschuldung und des schwachen Produktivitätswachstums“, vor dem Hintergrund eines anfälligen Arbeitsmarktes sowie „einiger verbleibender Schwächen im Finanzsektor mit grenzüberschreitender Bedeutung“.

Deutschland bleibt ein Defizitverfahren erspart

Auch an Deutschland, dem mit einer erwarteten Neuverschuldung von 1,6 Prozent ein Defizitverfahren erspart bleibt, äußerte die Kommission Kritik – vor allem wegen ausbleibender Investitionen. „Die Haushaltskonsolidierung dürfte die Inlandsnachfrage belasten und die öffentlichen Investitionen möglicherweise beeinträchtigen“, schreibt die Kommission. Deutschlands Anfälligkeit liege in einer „erheblichen Spar-/Investitionslücke begründet“. Der Investitionsbedarf sei gestiegen, „vor allem im Zusammenhang mit öffentlichen Investitionen auf regionaler Ebene und Unternehmensinvestitionen im Allgemeinen“. Kombiniert mit einer schwächelnden Inlandsnachfrage trage das zu hohen Leistungsbilanzüberschüssen bei, die in diesem und im kommenden Jahr weiter steigen dürften. Das habe negative Folgen für den Rest des Euro-Raums, schreibt die Kommission.



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