Brüssel. Herr Tsahkna, der französische Präsident Emmanuel Macron hat eine Diskussion über westliche Bodentruppen in der Ukraine angestoßen. Ist das für Estland völlig ausgeschlossen oder unter bestimmten Bedingungen nicht völlig vom Tisch?
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Wir brauchen unkonventionelle Lösungen. Aber die Ukrainer bitten nicht um westliche Truppen, sondern um Munition und Waffen. Wir müssen endlich liefern, was die Ukrainer verlangen – und das sind sehr konkrete Dinge. Wir müssen die militärische Unterstützung aller Art ausweiten, aber auch die finanzielle und politische Hilfe, etwa im EU-Beitrittsprozess. Es ist interessant zu sehen, wie Präsident Macron einen Satz sagt, und plötzlich sind alle in Europa aufgewacht. Ich befürworte diese Diskussion, die uns auf eine völlig neue Ebene bringt. Wir müssen alles tun, was wir können, und noch ein bisschen mehr. Ich hoffe, dass sich die Einsicht durchsetzt, dass es viel billiger und sicherer ist, den Ukrainern Munition und Waffen zu liefern, damit sie kämpfen können, anstatt darüber nachzudenken, ob wir einmarschieren sollen oder nicht. Es gibt keine Pläne, mit unseren Truppen einzugreifen. Aber wenn wir die Ukraine nicht ausreichend unterstützen, wird sie den Krieg verlieren – und unsere Truppen werden kämpfen müssen, wenn Putin dann in die nächsten Länder einmarschiert.
Das war aber kein „Nein“ zu westlichen Bodentruppen in der Ukraine.
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Ich mag ungewöhnliche Maßnahmen, aber wir sollten uns jetzt lieber darauf konzentrieren, was wir sofort tun können. Es gibt keine Verhandlungen über den Einsatz von Bodentruppen, und die Ukrainer bitten uns nicht, unsere Soldaten vor Ort zu stationieren.
Und wenn doch?
Ich bin immer offen für Diskussionen, wie die Ukraine als Sieger aus diesem Krieg hervorgehen kann. Aber an diesem Punkt sind wir im Moment noch nicht. Sollte Putin jedoch den Krieg gewinnen, müssen wir uns mit einem Krieg mitten in Europa auseinandersetzen. Estland grenzt an Russland, und diese Frage ist für uns existenziell. Im Jahr 2016 habe ich als Verteidigungsminister 120.000 russische Soldaten auf der anderen Seite unserer Grenze gesehen. Die meisten von ihnen sind inzwischen in der Ukraine gefallen, aber es wird etwa drei bis fünf Jahre dauern, bis Russland diese Ressourcen wieder aufgebaut hat. Wenn wir der Ukraine in der Zeit der Not nicht helfen, werden wir bald selbst in Not sein.
Macron hat mit seinem Vorstoß zumindest für Verunsicherung im Kreml gesorgt, was der Westen bereit ist, für die Ukraine zu tun. Unterstützen Sie diese Idee?
Wenn Macron sagt, wir sollten über Bodentruppen diskutieren, sorgt das natürlich für Verwirrung im Kreml. Denn Putin hat Angst vor der Nato und vor einem mächtigen Westen. Mir gefällt vor allem Macrons Botschaft, dass wir im Westen keine Angst vor Putin haben und nicht in Angst leben. Denn Putin will, dass wir Angst haben. Putin isst unsere Angst zum Frühstück. Daraus zieht er seine Energie, um andere Länder zu bedrohen. Aber wenn wir Putin zeigen, dass wir keine Angst haben und dass wir der Ukraine militärisch helfen, können wir ihm etwas entgegensetzen.
Pistorius: SPD ist keine Partei der Putinversteher
Der Verteidigungsminister warnt, dass der Streit um den Taurus von den wichtigsten Problemen der Ukraine im Verteidigungskrieg ablenke.
Quelle: dpa
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Können Sie verstehen, dass Länder wie Deutschland zögern, bestimmte Waffen wie Taurus zu liefern, weil sie Angst haben, selbst in den Krieg hineingezogen zu werden?
Ich bin sehr besorgt darüber, dass viele Menschen nicht verstanden haben, dass die Ukrainer anstelle von uns kämpfen. Dieser Krieg betrifft uns alle. Und Putin wird nicht nachgeben. Putin wird nicht aufhören, bis er den Krieg gewonnen hat. Estland hat Verhandlungen mit der Ukraine über ein Abkommen für bilaterale Sicherheitsgarantien in Höhe von 0,25 Prozent unseres BIP für militärische Unterstützung aufgenommen. Wenn alle in der EU das täten, würden wir die Ukraine mit mindestens 120 Milliarden Euro pro Jahr unterstützen. Diesen Schritt sollten wir gehen. Denn die Lage auf dem Schlachtfeld in der Ukraine ist sehr, sehr schwierig. Sie hat Truppen, sie hat den Willen, aber es fehlt an Munition. Wir dagegen sind sehr reiche Länder, die alle Munition der Welt kaufen können. Und es gibt genug Munition. Was fehlt, ist der politische Wille.
Auf tschechische Initiative kaufen nun viele EU-Staaten 800.000 Schuss Munition für die Ukraine. Das könnte für drei Monate ausreichen. Wie geht es weiter?
Ich unterstütze die tschechische Initiative, sie wird eine große Hilfe für die Ukraine sein. Aber das kann auf lange Sicht keine Lösung sein. Wir haben jedoch die Europäische Friedensfazilität mit 5 Milliarden Euro beschlossen, und die EU-Staaten haben sich geeinigt, dass Munition nicht mehr nur bei der europäischen Rüstungsindustrie bestellt werden muss. Das ist ein ganz wichtiger Schritt nach vorne. Wir können ab sofort leichter kaufen, was die Ukraine braucht. Jetzt ist es an der Zeit zu liefern. Estland ist in diesem Jahr einer der größten Munitionskäufer in Europa. Daher will ich wirklich keine Geschichten mehr hören, dass es keine Munition gebe. Tatsache ist: Es gibt genug Munition auf der Welt, vielleicht nicht in Europa, aber anderswo. Und es gibt genügend Kapazitäten. Wir müssen nur Verträge abschließen, das Geld auf den Tisch legen und die Munition beschaffen.
Die EU-Staaten wollen auch die Erträge der eingefrorenen Vermögen der russischen Zentralbank für die Verteidigung der Ukraine verwenden. Wie genau bekommt die Ukraine am Ende die Waffen, die sie braucht?
Es ist gut, dass die Entscheidung getroffen wurde, diese Gewinne für militärische Zwecke zu verwenden und der Ukraine zu helfen. Wichtig ist mir nur, dass wir das so schnell wie möglich tun. Ob die EU-Staaten Waffen und Munition kaufen oder die Ukraine das mit dem Geld selbst tut – das ist dann eher eine Formsache. Wichtig ist, dass die Ukraine bekommt, was sie braucht, und dass wir keine Zeit verlieren.
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Reden wir über Wochen, Monate oder nächstes Jahr?
Ich hoffe, es sind Wochen, aber realistischerweise sprechen wir wohl von mehreren Monaten. Zum Glück gibt es die tschechische Initiative und wahrscheinlich noch einige andere, die folgen werden. Die Frage ist: Wie können wir diese Initiativen finanzieren? Die Gewinne aus russischem Vermögen, die in den EU-Verteidigungsfonds der Friedensfazilität einfließen, können eine echte Hilfe sein. Dann brauchen wir keine Steuergelder für die Unterstützung der Ukraine mehr, was in vielen Ländern schon für Diskussionen gesorgt hat. Estland hat bereits die Steuern erhöht, um mehr in die Verteidigung investieren zu können. Auch wenn die Gewinne aus den eingefrorenen Vermögen für die Ukraine verwendet werden, müssen wir in Estland wahrscheinlich weitere Steuererhöhungen beschließen. Es gibt aber auch die eingefrorenen russischen Gelder selbst, die viele EU-Staaten nicht anzurühren wagen. Ich verstehe nicht, wie Politiker, die wiedergewählt werden wollen, das ihren Steuerzahlern erklären wollen.
Sie wollen also alle eingefrorenen Vermögenswerte für die Ukraine verwenden, nicht nur die Erträge?
Genau, die Erträge sind für uns nur ein kleiner, aber wichtiger Schritt. Wir wollen aber auch die eingefrorenen Vermögenswerte selbst nutzen.
Viele EU-Länder haben rechtliche Bedenken.
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Ich bin überzeugt, dass es rechtlich möglich ist, auch das eingefrorene russische Vermögen der Ukraine zu geben. Das estnische Außenministerium hat einen entsprechenden Gesetzentwurf erarbeitet, und unsere Verfassung ist beim Thema Schutz von Privateigentum eine der konservativsten in Europa. Der Gesetzentwurf stützt sich auf internationales Recht und der Feststellung der UN-Generalversammlung, dass Russland der Aggressor in diesem Krieg ist. Was Europa jetzt fehlt, ist der politische Wille.
Was ist mit der Kritik, dass man damit russisches Geld stehlen würde?
Was ist mit der Kritik, dass Russland ein aggressives Land ist, das Menschen tötet und Vermögenswerte in Milliardenhöhe in der Ukraine vernichtet? Es gibt den Grundsatz, dass der Aggressor für seine Taten zahlen muss. Das russische Vermögen wollen wir ja nicht nutzen, um selbst in Europa ein schönes Leben und teurere Autos zu haben. Nein, die Ukrainer brauchen dieses Geld, weil Russland das Land in Schutt und Asche legt.
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Im Moment sprechen wir von eingefrorenen Geldern der russischen Zentralbank. Wollen Sie auch privates Vermögen russischer Oligarchen der Ukraine geben?
Ja, unser Gesetzentwurf konzentriert sich sowohl auf privates als auch auf öffentliches Vermögen. Es geht um Vermögenswerte von Personen und Organisationen, die den internationalen Sanktionen unterliegen und rechtswidrige Handlungen gegen die Ukraine unterstützt haben.
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Bald sind Europawahlen. Erwarten Sie, dass Russland diese mit großen Desinformationskampagnen beeinflussen wird?
Die Russen versuchen jeden Tag, unsere Gesellschaften zu destabilisieren, indem sie vorherrschende Konfliktthemen wie Migration oder Probleme der Wirtschaft verstärken. Russland will unsere Gesellschaften spalten. Wir sollen unsere ganze Energie in diese Konflikte stecken. Und natürlich wird Russland diese Strategie vor den Europawahlen noch intensivieren. Die Russen sind ziemlich gut darin, unsere nationalen Debatten ins Visier zu nehmen. Aber nicht nur das – Estland hat in den letzten zwei Monaten zehn Personen verhaftet, um Anschläge zu verhindern, die vom russischen Geheimdienst koordiniert wurden.
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Konnten Sie alle Anschläge verhindern?
Wir haben die meisten Anschläge verhindert, bevor sie stattfanden. Aber einige sind trotzdem passiert. Der Privatwagen unseres Innenministers wurde zerstört. Die Russen setzen also nicht nur auf Desinformation und die Eskalation von Debatten, sie sind hier in Estland und auch in Europa sehr aktiv. Sie wollen, dass wir in Angst leben. Wir haben das öffentlich gemacht, weil unser Geheimdienst der beste der Welt ist und wir genau wissen, was die Russen tun.
Glauben Sie, dass es in Zukunft wieder enge Beziehungen zu Russland geben wird – mit oder ohne Putin?
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Es geht bei dieser Frage nicht nur um Putin. Hinter dem Kreml steht ein großes Regime, und Putin ist dort nicht der einzige Akteur. Letztlich ist es auch eine Frage des russischen Volkes, was für ein Leben es führen will. Sie haben viele begehrte Ressourcen, wie Gas, Öl und Gold, und könnten ein gutes Leben führen, wenn sie ein freundschaftliches Verhältnis zu Europa wollen würden. Aber irgendwie ist das nie der Fall, und ich glaube nicht, dass sich das in naher Zukunft ändern wird.
Zu einem zweiten Krisenherd: Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat Pläne für den Angriff auf die Stadt Rafah angekündigt, wo mehr als eine Million Menschen leben. Fordern Sie ihn auf, die Angriffe auf Gaza einzustellen?
Natürlich wollen wir, dass es nicht noch mehr Tote in Gaza und überhaupt in der Region gibt. Eine Ausweitung der Angriffe auf Rafah wäre katastrophal. Jeder weitere Schritt in diese Richtung, insbesondere die Tötung von Zivilisten, würde den Krieg weiter eskalieren lassen. Ich sage ganz deutlich: Israel hat das Recht, sich gegen die Terroristen der Hamas zu verteidigen. Die Frage ist aber, ob diese monatelangen Angriffe noch der Selbstverteidigung dienen oder einem anderen Zweck. Israel muss diese Angriffe einstellen und Verhandlungen über eine Lösung, und zwar eine Zweistaatenlösung, beginnen. Die humanitäre Lage ist katastrophal und hat ein unvorstellbares Ausmaß erreicht.
Luftwaffe wirft erste Hilfsgüter über dem Gazastreifen ab
Die Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen ist verzweifelt. Nun beteiligt sich auch Deutschland mit Hilfslieferungen aus der Luft.
Quelle: dpa
Da kaum Hilfsgüter den Gazastreifen erreichen, werfen Kritiker Israel vor, es setze Hunger als Waffe ein.
In Gaza gibt es bereits eine Hungersnot. Das ist nicht hinnehmbar. Wir bringen Hilfsgüter auf dem Luft- und Seeweg nach Gaza, aber das ist nicht genug. Genug wäre, wenn alle Menschen ausreichend zu essen hätten. Aber davon sind wir im Moment weit, weit entfernt. Israel muss freien, ungehinderten und sicheren Zugang für humanitäre Hilfe gewähren. Die Menschen in Gaza brauchen einen dauerhaften Waffenstillstand. Dann können wir Gespräche über einen Frieden in der Region beginnen, der eine Zweistaatenlösung beinhalten muss. Solange es keine Zweistaatenlösung gibt, werden wir jeden Tag sehen, wie unschuldige Menschen getötet werden. Derzeit gibt es keine Anzeichen für Frieden.
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Die Außenminister und Staatschefs der EU rufen immer wieder zu einer Feuerpause auf, aber Israel scheint diese Rufe nicht hören zu wollen, oder?
Ja, wir haben immer wieder zu einer Feuerpause aufgerufen und werden dies auch weiterhin tun. Vor allem leisten wir humanitäre Hilfe und tun wirklich alles, was in unserer Macht steht, um unschuldigen Zivilisten in Gaza zu helfen. Aber es ist nicht die EU, die sich an Israel wendet. Es sind unsere demokratischen Gesellschaften in Europa, die eine friedliche Lösung wollen. Wir fordern Israel dringend auf, auf diese europäische Stimme zu hören.