Die Vorhaut ist alles andere als ein passendes Thema fürs gesellige Beisammensein. Obwohl fast 50 Prozent aller Menschen damit zur Welt kommen, wird selbst im engsten Kreis kaum darüber gesprochen. Es sei denn, er besteht aus Samuel Zweiflers weit verzweigter, engverwobener Sippe; dann ist „Praeputium penis“, wie das Stück Haut auf Latein heißt, nicht nur Randaspekt, sondern Mittelpunkt familiärer Debatten. Tagein, tagaus.

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Kein Wunder – besteht die Verwandtschaft des werdenden Vaters doch vor allem aus Deutschen jüdischen Glaubens mit traditioneller Religionsauffassung plus Samuels gottloser Freundin. Über die Beschneidung ihres gemeinsamen Sohnes wird demnach schon vor dessen Geburt befunden, als stamme er direkt von Abraham ab – doch der Reihe nach. Denn zu Beginn des gleichnamigen ARD-Sechsteilers haben „Die Zweiflers“ – bereits in der ARD-Mediathek – ganz andere Sorgen.

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Patriarch Symcha (gespielt von Broadway-Legende Mike Burstyn) will das Feinkostimperium im Frankfurter Bahnhofsviertel, von dem die halbe Verwandtschaft lebt, loswerden. Sein Enkel Samuel (Aaron Alteras) ist zwar Musikmanager. Für etwaige Erbangelegenheiten allerdings reist auch er aus Berlin an und verliebt sich in die karibikstämmige Köchin Saba (Saffron Coomber). Dass sie kurz darauf schwanger wird und mit dem Familienplan einer rituellen Vorhautzirkumzision fremdelt, ist allerdings nicht das größte Zweiflers-Problem.

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„Die Zweiflers“ – ein tragikomisches Meisterwerk

Schwerer wiegt ein dunkles Firmengeheimnis der Nachkriegszeit, das die Kiezkanaille Siggi (Martin Wuttke) ausplaudern will, falls er nicht am Geschäft beteiligt wird. Und dann brüskiert Sams Bruder (Leon Altaras) die Mischpoke auch noch mit Kunstwerken, die den Holocaust relativieren. Alles stereotyp, vieles klischeehaft, das meiste aber so sinnlich, plausibel und warm, wie es wohl nur ein jüdischer Showrunner wie David Hadda kreieren kann.

Von Anja Marquardt und Clara von Arnim teilweise auf Jiddisch inszeniert, brillieren „Die Zweiflers“ jedoch durch etwas anderes: fokussierte Beiläufigkeit. Wer jüdische Fiktionen nach 1945 durchforstet, stieß bislang meist auf zwei Pole: Oliver Hirschbiegels „Ein ganz gewöhnlicher Jude“, der 2005 komplett im Holocaustschatten des Antisemitismus stand. Und Dani Levys „Alles auf Zucker!“, wo Henry Hübchens Zocker nur im Stammbaum Jude war.

Dazwischen gibt es von Maximilian Glanz (Towje Kleiner) in Helmut Dietls Zwölfteiler „Der ganz normale Wahnsinn“ von 1979 bis Nina Rubin (Meret Becker) im Berliner „Tatort“ zwar weitgehend geschichtslose Kinder Israels. Ansonsten aber spielt das Trauma jahrtausendealter Verfolgung eine Hauptrolle wie aktuell in der ZDF-Serie „Borders“ um israelische Grenztruppen in Tel Aviv.

Wenn Samuels manipulative Mutter Mimi (Sunnyi Melles) unbedingt die Vorhaut ihres Enkels verabschieden möchte, will Chefautor Hadda uns einen „authentischen Einblick in den Mikrokosmos“ gewähren und die „Ambivalenz des jüdischen Selbstverständnisses auf tragisch-humoristische Weise“ verhandeln. Beides gelingt ihm mithilfe von Phillip Kaminiaks Zoom auf jüdische Essgewohnheiten derart fantastisch, dass es an israelische Welterfolge wie „Shtisel“, „Kvodo“ oder die „Homeland“-Vorlage „Hatufim“ erinnert.

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Weil die jüngeren Zweiflers eher auf der Suche nach Identität als Wurzeln sind, darf das Format wie eine Milieustudie Woody Allens wirken: als kommunikatives Chaos, in dem nicht dauernd Klezmer durch Räume voller Chanukkas und Chagall-Gemälde wehen muss, um authentisch zu sein. Auch deshalb wurde es in Cannes als „beste Serie“ samt „beste Musik“ prämiert. Zu Recht! Denn ob mit oder ohne Vorhaut: „Die Zweiflers“ sind ein tragikomisches Meisterwerk.

„Die Zweiflers“ sind bereits in der ARD-Mediathek streambar und laufen im linearen TV am Freitag, 10. Mai, ab 22.20 Uhr.



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