Es war schnell klar, wer an diesem Abend die Hausmacht haben würde. Viel Rot hatte sich auf den Tribünen des Dortmunder Stadions ausgebreitet, dazu ein wenig von der Farbe Schwarz, wenn sie zu einem doppelköpfigen Adler gehörte: In welche Himmelsrichtung man auch schaute, überall wurde die Nationalflagge Albaniens geschwenkt. Viel wohliger hätten es sich die geschätzt 50 000 albanischen Fans in Westfalen nicht einrichten können. Auch einige italienische Tifosi hatten es auf die Ränge geschafft; eine große albanische Diaspora lebt auf dem Stiefel, insbesondere beim Fußball begegnen sich die jeweiligen Landsleute stets mit Hochachtung und der ein oder anderen Umarmung.

Aber das war halt nicht irgendein Spielchen, sondern die Auftaktpartie einer Europameisterschaft. Ein Turnier, bei dem für die Albaner jedes Minütchen eine Art geschichtsträchtiges Ereignis darstellen dürfte, weil sie so oft das Vergnügen noch nicht hatten. Apropos: Das erste Minütchen wird sowohl Albanern als auch Italienern noch ein ganzes Weilchen in Erinnerung bleiben, dazu gleich mehr. Dennoch behielt die Squadra Azzurra bei ihrem Auswärtsspiel in Dortmund die Oberhand: Die Italiener siegten 2:1 – und haben somit einen ersten kleinen Schritt auf dem Weg zurückgelegt, an dessen Ende die Verteidigung des EM-Titels von 2021 stehen könnte.

Doch zunächst fabrizierte Italiens Federico Dimarco einen katastrophalen Einwurf, der es sogar in die Geschichtsbücher schaffen sollte. Es lief die erste Spielminute, als der Außenverteidiger sich auf Höhe des eigenen Strafraums den Ball schnappte und offenbar seinen Teamkollegen Alessandro Bastoni finden wollte, doch der Wurf blieb auf halber Strecke stecken – wie ein Kleinwagen bei der Fahrt auf einer Sanddüne. Albaniens Nedim Bajrami fackelte nicht lange und feuerte den Ball hoch oben ins rechte Kreuzeck, ein sehenswerter Treffer war das. Und gerade mal 22 Sekunden gespielt. Dimarcos Fauxpas dürfte erstmal für lange Zeit in den Nachschlagewerken geschrieben stehen, als Vorlage zum schnellsten Tor der EM-Geschichte. Immerhin haben die Italiener Erfahrung mit derlei frühen Nackenklatschern: Bei der WM 1978 in Argentinien fingen sie sich gegen Frankreich mal nach 44 Sekunden einen Gegentreffer.

Doch des einen Leid ist des anderen Freud: Durchs Dortmunder Stadion schwappte eine Welle der Ekstase, einen derart fulminanten Start hatten sich nicht mal die optimistischsten Albaner zu träumen gewagt. Eine Dezibelstärke wie nach Bajramis Treffer bekommt höchstens die mythische gelbe Wand hin, aber womöglich nur, wenn sich die BVB-Fans extra viel Mühe geben. Das wäre eigentlich genug Material für einen Favoritensturz gewesen. Doch die Italiener rafften sich schnell wieder auf – mitsamt des unglückseligen Dimarco, der für Inter Mailand eine glänzende Meistersaison hingelegt hat.

Der 26-Jährige hat einen gefürchteten linken Fuß, in der elften Minute nutzte er ihn für ein Zwei-Meter-Pässchen bei einer schnell ausgeführten Ecke; die Variante erzielte ihren gewünschten Überraschungseffekt. Lorenzo Pellegrini, der Passempfänger, schickte eine Flanke los, die geradewegs am langen Pfosten bei Bastoni landete – Dimarcos Inter-Kollege wuchtete den Ball per Kopf ins Tor.

Noch nie traf jemand schneller bei einer EM: Nedim Bajrami erzielt nach 22 Sekunden das 1:0. (Foto: Andreea Alexandru/dpa)

Die Italiener hatten nun die Kontrolle und reihten Pass an Pass, zumeist angetrieben von den Mittelfeldmännern Jorginho und Nicoló Barella. Und jener Barella zeigte dann auch wenig später, wieso in Italien zuletzt fast schon im Live-Ticker-Modus über Muskelproblemchen berichtet worden war, die ihn bei der Turniervorbereitung geplagt hatten. Denn nachdem Dimarco sein Rehabilitationsprogramm vorschriftsmäßig durchzog, landete der Ball zentral hinter dem albanischen Strafrum beim Mittelfeldmann von Inter. Barella schwang sein Bein durch – von Wehwehchen war nichts mehr zu sehen – und traf per Dropkick zur Führung (16.). Fortan wurde aus Kontrolle italienische Dominanz, ganz so, wie sich das der Offensivcoach Luciano Spalletti wünscht: 70 Prozent Ballbesitz hatten die Azzurri mit Ende der ersten Halbzeit vorzuweisen; Stürmer Gianluca Scamacca und Mittelfeldmotor Davide Frattesi ließen jeweils beste Chancen aus.

Doch Titel – wer wüsste das besser als die Italiener? – werden ohnehin nicht durchs rauschhafte Zelebrieren von Angriffsfußball gewonnen, sondern mit seriöser Defensivarbeit. Trainer Spalletti hatte lange gegrübelt, wie er seine Abwehr aufstellen sollte, ob mit drei oder vier Mann und in welcher personellen Besetzung. Er wählte die Vierer-Variante und besetzte die vakante Zentralverteidiger-Position neben Bastoni mit Riccardo Calafiori vom FC Bologna, der über piedi buoni verfügt, über viel Gefühl im Fuß also. Wie bei seinem Nebenmann Bastoni ist sein starker Fuß aber der linke, weshalb in Italien viel diskutiert worden war über die Befähigung des 22-Jährigen. Von seinen gerade mal zwei Länderspiel-Einsätzen ganz zu schweigen.

Doch nach anfänglicher Nervosität fand Calafiori immer besser rein ins Spiel, und in der zweiten Hälfte war er dann die meiste Zeit über voll da. Und das war auch nötig, weil die Italiener nicht viel mehr als das Nötigste machten, um ihre Führung über die Ziellinie zu bringen. Die Albaner liefen phasenweise mutig vorne an, doch der Spalletti-Elf gelang es immer wieder, sich mit kurzen Pässen oder plötzlichen Vertikalisierungen vom Druck zu befreien. Die letzte Konsequenz nach vorn fehlte aber, was die Albaner in der 90. Minute als freundliche Einladung verstanden.

Da unterschätzte Calafiori einen hohen Ball, es war sein einziger Fehler, aber er hätte schwere Folgen haben können: Albaniens Stürmer Rej Manaj scheiterte freistehend an Gianluigi Donnarumma, Italiens Tormann lenkte den Schuss mit großer Mühe neben den Pfosten. Und die Squadra Azzurra gewann dadurch knapp, aber am Ende doch verdient gegen albanische Spieler und Fans, die großen Eindruck hinterlassen hatten.



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