Bahira hat ihren Mann in den Folterkerkern von al-Assad verloren. Munzur wurde 21 Tage gefangen gehalten, weil er nicht zum Wehrdienst antrat. Und Alia musste ihren Beruf als Journalistin aufgeben, weil sie nicht nur Propaganda verbreiten wollte. Die Geschichten der drei sind unterschiedlich und ähneln sich doch. Gemeinsam ist ihnen die Hoffnung auf Frieden in ihrer Heimat – endlich.

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Drei persönliche Geschichten aus Syrien

Bahira, 53, Hausfrau aus Latakia

Bis heute kann ich nicht glauben, dass er gestorben ist.

Bahira,

Hausfrau und Mutter

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Eines Tages im Jahr 2013, etwa zwei Jahre nach Beginn der Revolution, kamen Freunde, Arbeitskollegen von Mohammed ins Haus seiner Familie nach Latakia im Westen von Syrien, direkt am Mittelmeer. Dem Ort, aus dem Diktator Baschar al-Assad kommt. Das Regime ging damals besonders heftig gegen Oppositionelle vor, die Macht begann zu bröckeln. Seine Familie hatte eine Vorahnung. Und der Albtraum wurde wahr. Die Kollegen erzählten Bahira*, dass ihr Mann auf der Arbeit vom Staatssicherheitsdienst abgeholt worden sei. Dass sie ihn verhaftet haben. „Bis heute wissen wir nicht, was der Vorwurf war“, sagt sie.

Bahira, heute 53 Jahre alt, hatte Angst. Sie kannte die Geschichten aus den Gefängnissen, von Folter bis zum Tod. Sie hatte von Gaskammern, Säurebädern und Exekutionen gehört. „Ich habe versucht, diese Gedanken zu verdrängen“, sagt sie. Es gab kein Gerichtsverfahren, keine Gründe. In einer Diktatur braucht es das nicht.

Für Bahiras Familie änderte sich alles. Zwei ihrer vier Kinder brachen das Studium ab, um die Familie zu versorgen. Vor 2011 habe es schon Unterdrückung und Ungerechtigkeit gegeben, sagt sie, aber nun kam der Verlust der Freiheit hinzu, die Verfolgung jedweder Person, die al-Assad und seinen Leuten nicht gefielen. „Das syrische Volk lebte unter ständiger Bedrohung und Unsicherheit.“

In Deutschland äußerte sich die Freude über den Sturz von Machthaber Assad in Syrien unter anderem in Feierlichkeiten auf den Straßen.

Syrische Stimmen in Deutschland: „Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt, sie stirbt nie“

Zehntausende Syrer in Deutschland haben das Ende des Assad-Regimes gefeiert. Was denken die Menschen, die einst aus dem Bürgerkriegsland flohen, über die Situation in ihrer Heimat? Reporter der Partnertitel des RedaktionsNetzwerks Deutschland haben sich umgehört: Wie groß sind die Hoffnungen, wie groß die Ängste?

2016 reiste die Familie nach Damaskus, wohin Mohammed verlegt worden war. „Sie drückten uns eine Sterbeurkunde und seinen Pass in die Hand“, sagt Bahira. Todesursache: Bluthochdruck. Als würden die Menschen in Syriens Gefängnissen zufällig an Bluthochdruck, Diabetes oder Herzinfarkt sterben. „Wir wissen, dass sie unter Folter getötet werden“, sagt Bahira. Weitere Informationen erhielten sie im Militärkrankenhaus nicht, stattdessen den Hinweis, nicht zu weinen, weil Kameras alles aufzeichnen würden. Ihre Kinder hielt sie an zu erzählen, dass der Vater zuhause einen Herzinfarkt erlitten habe. „Ich konnte in meinem eigenen Land niemandem erzählen, dass der Geheimdienst meinen Mann getötet hat“, sagt sie. „Aber jetzt, heute, kann ich stolz auf meinen Mann sein.“

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Manchmal quälen Bahira die Fragen, was mit ihrem Mann passiert ist. Was hat er zu Essen bekommen? Was hat er getrunken? Wie ist er gestorben? Wie sehr musste er leiden? „Diese Fragen gehen mir bis heute nicht aus dem Kopf.“ Die Leiche wurde nie freigegeben. Der tote Körper würde wohl zu viel verraten. Eine surreale Situation. „Bis heute kann ich nicht glauben, dass er wirklich gestorben ist. Ich warte immer noch auf seine Rückkehr.“

Wir werden sehen, ob die neue Regierung es schafft, die Zustände zu verbessern. Es wird noch Zeit brauchen. Aber das macht nichts. Wir haben schon so lange durchgehalten.“

Bahira,

Hausfrau und Mutter

Einige Jahre später verlangte das Regime von Bahiras ältestem Sohn, seinen Wehrdienst zu absolvieren. Er, der auf einem Auge blind ist, der ehemalige Jura-Student, der jetzt Versorger war. Yahya tauchte unter. 2019 wurde der Druck zu groß. Überall Polizei. Yahya ging zum Militär, wurde in die Wüste ins irakisch-syrische Grenzgebiet geschickt. Kaum Essen. Keine Telefonverbindung. Kaum Trinkwasser. Ein Krieg gegen das eigene Volk, gegen die Überzeugung, für die sein Vater starb.

Als die Menschen Samstag- auf Sonntagnacht durch die Straßen zogen und riefen „Baschar ist gefallen, das Regime ist gefallen“, habe sie Angst gehabt. Das kann doch nicht wahr sein, nach all den Jahren der Unterdrückung, des Schmerzes, der Unfreiheit. Sie konnte erstmals alles aussprechen, was 13 Jahre ungesagt blieb. Sie hörte Lieder, die sie 13 Jahre nicht gehört hatte. Ihre Kinder feierten auf den Straßen, nur Yahya nicht. Der konnte sich immerhin in Sicherheit bringen. „Er ist weit weg von mir, aber in Sicherheit.“

Wie die neue Regierung sei, das könne man nach der kurzen Zeit noch nicht beurteilen, sagt die Sunnitin. Nach wie vor gebe es nur anderthalb Stunden am Tag Strom, die Wasserversorgung sei oft unterbrochen. „Wir werden sehen, ob die neue Regierung es schafft, diese Zustände zu verbessern.“ Erstmals erlaubt sie sich wieder Gedanken an die Zukunft. „Es wird noch Zeit brauchen. Aber das macht nichts. Wir haben schon so lange durchgehalten.“

Munzur, 31, Lehrer aus Latakia

Zu viele junge Menschen haben 13 Jahre ihres Lebens an den Krieg verloren.

Munzur,

Lehrer

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2017 sollte Munzur* zum Militär. Er, der Lehrer, wollte nicht, er wollte nicht für al-Assads Truppen kämpfen. 21 Tage lang wurde er ins Gefängnis gesteckt. „Sie haben mich geschlagen“, sagt er. Näher will er es nicht beschreiben. „Dann wurde ein Schreiben an das Bürgerbüro geschickt, dass ich der einzige Versorger meiner Familie bin und ich kam frei.“ Der einzige Versorger der Familie, er verdiente rund 400.000 Syrische Lira, umgerechnet keine 30 Euro. „Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, um die täglichen Bedürfnisse zu decken“, erzählt der 31-Jährige.

In der zehnten Klasse musste Munzur der Baath-Partei von al-Assad beitreten, sonst hätte er keine Zeugnisse bekommen und keinen Job. „Die Parteien, die existierten, waren nur Schein“, sagt er, „die einzige Partei, die ich kannte, war die Baath-Partei.“ Als Alawit erlebte Munzur in den vergangenen Jahren Diskriminierung, immerhin ist auch Diktator al-Assad Alewit. „Wir wurden immer dem Regime zugerechnet, aber das ist nicht wahr.“ Dabei lebten auch die Alewiten in ihren Dörfern in Armut, dabei war es auch ihm nicht möglich, seine Meinung zu äußern.

Wir hoffen, dass Syrien ein schönes Land wird, das für alle offen ist, in dem wir alle zusammen in Sicherheit leben können.

Munzur,

Lehrer

Die Hoffnung bei Munzur auf das neue Syrien ist riesig. Er weiß, dass bei vielen nach der ersten Freude und Erleichterung auch Angst präsent ist. Wie wird das neue Syrien? „Es gab eine falsche Vorstellung davon, was die Opposition tun würde“, sagt er, „aber die Realität ist anders.“ Er glaubt an Hay‘at Tahrir al-Sham (HTS), die die Übergangsregierung übernommen hat. „Es gab Bedenken, dass Konflikte zwischen den Konfessionen provoziert werden“, sagt Munzur, „aber sobald HTS eintraf, war die Situation unter Kontrolle.“ Die Rebellen hätten Telefonnummern verteilt, unter denen die Bevölkerung Verstöße wie Diebstahl melden konnten. „Jeder, der anderen schadet, soll zur Rechenschaft gezogen werden.“ Was das bedeutet, darauf wollte er nicht näher eingehen.

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Die Menschen in seinem Land, die hätten nun ihr wahres Gesicht gezeigt, findet Munzur. Die Liebe, die Unterstützung, die gegenseitige Hilfe sei omnipräsent. Das lässt ihn an ein friedliches, soziales Syrien glauben. „Das einzige Anliegen der Menschen ist es, in Frieden zu leben und die grundlegenden Bedürfnisse zu sichern“, sagt er. Lange Zeit sei es nicht möglich gewesen, an die Zukunft zu denken. „Zu viele junge Menschen haben 13 Jahre ihres Lebens an den Krieg verloren. Aber wir werden Syrien wieder aufbauen und als Einheit zusammenarbeiten. Ich hoffe, dass Syrien besser zurückkommt als es je war. Wir hoffen, dass Syrien ein schönes Land wird, das für alle offen ist, in dem wir alle zusammen in Sicherheit leben können.“

Alia, 33, Journalistin aus Damaskus

Wenn diese Revolution nichts anderes erreicht als die Befreiung der Inhaftierten, dann ist das ein Erfolg.

Alia,

Journalistin

Lange hat Alia* als Journalistin gearbeitet. Für Zeitungen, fürs Radio, fürs Fernsehen. Einst wollte sie über einen Künstler berichten, der gegen das syrische Regime war. Sie durfte nicht. Immer wieder Anweisungen, Ermahnungen. „Unsere Arbeit war Propaganda“, sagt sie, „Wir konnten nicht schreiben, was wir wollten. Es war erdrückend“ 2017 schmiss sie hin. Sie wechselte in den humanitären Bereich, aber aufgegeben hat sie ihren alten Beruf nicht. „Ich träume davon, irgendwann wieder in den Medien zu arbeiten.“

13 Jahre lang hat Alia geschwiegen. Die vielen Tabus, die Angst, die Sache mit der Sicherheit. Nicht einmal das Wort „Dollar“ habe sie ausgesprochen, immerhin konnte man dafür verhaftet werden. „Der Bürgerkrieg hat uns an einen Punkt gebracht, an dem wir aus Angst vor dem Chaos den Status quo akzeptieren“, sagt sie. Als sie noch studierte, sah sie, wie Bekannte und Freunde mit Stöcken verprügelt und verhaftet wurden. Sie hörte ihre Geschichten, als sie freigelassen wurden. Schmerzhafte Geschichten. „Ich habe von da an darauf geachtet, nichts zu sagen, was mich ins Gefängnis bringen könnte“, sagt sie. „Ich hatte schlicht nicht den Mut, mich gegen das Regime aufzulehnen.“

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Mit dem Sturz des Regimes von al-Assad hat sie ein wenig Hoffnung zurück. Ein wenig, denn die HTS ist bislang nicht dafür bekannt, freiem Journalismus zugeneigt zu sein. „Ich hatte Angst, denn die HTS hat bisher unterdrückerische Praktiken auch gegenüber Frauen und Andersdenkenden angewandt“, sagt die 33-Jährige. Immerhin: Bisher scheint die Sehnsucht nach Frieden und Freiheit größer.

Ich träume davon, irgendwann wieder in den Medien zu arbeiten.

Alia,

Journalistin

„Syrien befindet sich in einer Phase der Unsicherheit“, sagt Alia. In den Bürgerkriegsjahren hätten regionale Akteure die Macht übernommen, „deren Interessen sich von denen des syrischen Volkes unterscheiden.“ Sie sieht ein „großes Sicherheitsvakuum“ und weiß nicht so recht, ob sie darauf vertrauen kann, dass dieses gefüllt wird. „Ich weiß nicht, ob wir uns auf einen Fundamentalisten wie Mohammed al-Bashir verlassen können“, sagt sie. Und fügt doch an: „Wir müssen optimistisch sein.“ Was auch sonst?

Chaos gebe es, wenn auch weniger als in der Zeit zuvor. Behörden, Polizei, Krankenhäuser, Institutionen, alle fangen wieder bei Null an. Die Gesellschaft muss sich neu sortieren, jeder seinen Platz finden. Macht muss neu definiert und vergeben werden. Über den Sturz von al-Assad könne man sich nur freuen, auch wenn es Sorgen bezüglich der Zukunft gibt. „Wenn diese Revolution nichts anderes erreicht hat als die Befreiung der Inhaftierten aus den Gefängnissen, dann ist das für mich ein großer Erfolg.“

Alia hat Europa und die arabische Welt bereist, sie hat verschiedene Länder und Kulturen kennengelernt. In einem anderen Land könne sie nicht leben, sagt sie. „Mein Herz hat immer an Syrien geglaubt. Es ist ein reiches Land ist, mit seinen Menschen, seiner Güte und seiner Kultur, mit seiner Sonne, die zu allen Jahreszeiten immer präsent ist.“ Sie wünscht sich ein friedliches Zusammenleben der Religionen, einen zivilen Staat, ein funktionierendes Rechtssystem, eine neue Verfassung und demokratische Wahlen. „Bei der letzten Wahl musste ich meine Stimme abgeben, obwohl ich nicht wollte.“ Zitternd habe sie einen leeren Stimmzettel abgegeben. „Das möchte ich nicht noch einmal erleben. Wir haben es verdient, gehört zu werden.“

* Zum Schutz der Protagonistinnen und des Protagonisten hat das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) die Namen und erkennbare Aspekte der Biografie geändert. Der Redaktion ist die Identität der drei Personen bekannt.



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