Mehr als 12.000 Menschen haben im vergangenen Jahr in Deutschland einen Schutztitel erhalten, obwohl sie zuvor in Griechenland nachweislich als Flüchtlinge anerkannt worden waren. Das berichtet die „Welt am Sonntag“ unter Berufung auf interne Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf).
Demnach seien im vergangenen Jahr insgesamt 16500 Anträge eingegangen von Zuwanderern, die bereits in Griechenland einen Schutzstatus erhalten hatten. Bei 1900 von ihnen habe sich das Verfahren von selbst erledigt, etwa weil die Menschen in ein anderes Land weitergezogen waren. Insgesamt 2300 Anträge seien abgelehnt worden. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums (BMI) habe es in vergangenen Jahr insgesamt 158 Abschiebungen nach Griechenland gegeben.
„Unmenschliche und erniedrigende Behandlung“
Der Grund für die ungewöhnlich niedrige Quote: Obwohl Griechenland zur Europäischen Union (EU) gehört, gilt es in Deutschland nach mehreren Gerichtsurteilen nicht mehr als sicheres Land für geflohene Menschen. Das sogenannte „Dublin-Verfahren“, das die Verteilung von Flüchtlingen auf europäischer Ebene regelt, sieht zwar im Grundsatz vor, dass die Menschen in jenem Land bleiben, in dem sie zuerst ihren Schutzantrag gestellt hatten – in vielen Fällen ist das Griechenland. Diese Regel gilt aber nicht, wenn in dem fraglichen Land sogenannte systemische Mängel herrschen.
Im Januar 2021 gab das Oberverwaltungsgericht (OVG) im nordrhein-westfälischen Münster der Klage eines Syrers und eines Eritreers statt, die nach Griechenland abgeschoben werden sollten. In Griechenland drohe den beiden Männern „die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung“, hieß es in der Urteilsbegründung, zu befürchten seien Obdachlosigkeit und „extreme materielle Not“. Genauso hatte auch das OVG des Saarlandes im November 2022 entschieden. Seitdem sind Abschiebungen nach Griechenland – abgesehen von wenigen Ausnahmen – de facto ausgesetzt.
Kinder mit Rattenbissen
Menschenrechtsorganisationen prangern bereits seit Jahren die Behandlung geflohener Menschen in Griechenland an. Gewalt an den Grenzen ist Alltag, immer wieder schicken griechische Behörden völkerrechtswidrig Flüchtlingsboote wieder ins Meer zurück – und damit in den möglichen Tod. Lokale und internationale Medien berichten außerdem von organisierten Schlägertrupps, die Migranten wieder auf dem Meer aussetzen. Sozialleistungen oder Unterkünfte für Flüchtlinge gibt es nicht, mangelnde Sprachkenntnisse erschweren darüber hinaus die Jobsuche.
Vor allem auf den griechischen Inseln müssen geflohene Menschen unter unwürdigen Bedingungen in Zeltlagern ausharren. Nach einem Besuch des Flüchtlingscamps Kara Tepe auf der Insel Lesbos im Dezember 2020 sprach der damalige Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) von „Kindern in nassen Zelten“, die „von Raten gebissen“ würden. Griechenland weist die meisten der Berichte über die menschenunwürdige Behandlung von Flüchtlingen zurück, außerdem argumentiert die Regierung in Athen, sie werde vom Rest Europas alleingelassen.
Kritik am Faeser-Ministerium
Aus Behördenkreisen werde aber auch Kritik am Bundesinnenministerium von Ministerin Nancy Faeser (SPD) laut, berichtet die „Welt am Sonntag“. Demnach lege das Ministerium die Gerichtsurteile sehr weitreichend aus. „Dass die Überstellungen nach Griechenland nicht nur für jene, die dort mit einer erheblichen Wahrscheinlichkeit von Sozialleistungen abhängig wären, ausgesetzt sind, sondern auch für junge, gesunde Männer, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dort Arbeit finden würden und gar nicht die als zu niedrig beurteilten Sozialleistungen benötigen, liegt nicht an den Gerichten, sondern im Entscheidungsspielraum des Bundesinnenministeriums“, zitiert die Zeitung aus Behördenkreisen.
Das Ministerium weist die Darstellung zurück: Die Gerichte stützten ihre Urteile „auch auf Erkenntnisse, wonach diese Personen de facto keinen Zugang zu Arbeit haben”, heißt es in einer Stellungnahme gegenüber der „Welt am Sonntag“. Das Bamf soll außerdem deutlich mehr Stellen erhalten. „Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stärken wir mit 1160 zusätzlichen Kräften“, sagte Faeser dem Blatt. Ein Sprecher des Ministeriums bestätigte auf Nachfrage, dass es sich dabei um Vollzeitstellen handelt und diese „schnellstmöglich“ besetzt werden sollten. Derzeit verfügt das Bamf nach eigenen Angaben über rund 8000 Stellen.
Ungeklärte Drittstaaten-Frage
Die Bundesregierung tue auch viel dafür, Asylverfahren zu beschleunigen und zu digitalisieren, sagte Faeser. „Dafür nehmen wir jetzt noch einmal 300 Millionen Euro zusätzlich in die Hand.“ Zur laufenden Prüfung der Bundesregierung zur Machbarkeit von Asylverfahren in Drittstaaten sagte Faeser, diese dauere an. „Wir prüfen das und hören dazu gerade Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an. Es gibt Experten, die eine solche Regelung für möglich halten, andere sagen, dass die Rechtslage geändert werden müsste.“ Maßstab seien die Menschenrechte, wie sie im europäischen Recht und in der deutschen Verfassung geschützt seien.
Auf die Frage, wo sie sich solche Verfahren vorstellen könne, sagte Faeser: „Zum Beispiel in Staaten, die auf der Route nach Westeuropa liegen und rechtsstaatliche Standards einhalten.“ Entscheidend sei, dass die Betroffenen während der Verfahren sicher seien und von dort in ihre Heimatländer zurückgebracht werden könnten, wenn sie keinen Schutz benötigten.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Regierungschefs der Länder hatten sich im November darauf verständigt, dass die Bundesregierung prüft, ob Asylverfahren außerhalb Europas möglich sind. Ein Ergebnis der Prüfung liegt bislang zwar nicht vor, könnte aber beim nächsten Treffen der Runde in der kommenden Woche besprochen werden.